Didaktischer Kommentar

Relevanz und Übersicht

Das Denken in Modellen ist ein entscheidendes Charakteristikum der Wissenschaft Chemie. Der Umgang mit Modellen muss deshalb ein wesentlicher Bestandteil des Chemieunterrichts an der Sekundarstufe II sein. So ist ohne die Modellvorstellung der Quantenchemie ein tieferes Verständnis etwa der chemischen Bindung und der sich daraus ableitenden Eigenschaften von Stoffen sowie der Farbigkeit von Substanzen nicht möglich. Die Quantenchemie, diese wichtige und in vielen Bereichen des Lebens zum Tragen kommende Theorie (Elektronenmikroskop, Rastertunnelmikroskop, Mikroelektronik etc.), sollte nach Ansicht verschiedener Fachleute verbindlicher Inhalt des Chemieunterrichts sein. Andere Stimmen weisen das Stoffgebiet als für die Sekundarstufe II zu abstrakt und anspruchsvoll eher der Hochschule zu. Inzwischen ist die Quantenchemie immer häufiger Bestandteil der Lehrpläne an den verschiedensten Schulen (im Lehrplan für Gymnasien des Kantons Bern z.B. ist die Quantenchemie und ihre Anwendung im Schwerpunktfach Biologie/Chemie zwingend vorgesehen und für das Ergänzungsfach als einer von verschiedenen möglichen Inhalten aufgeführt). Ausgelöst durch die kontroverse Diskussion um die Frage nach der Stellung der Quantenchemie an der Sekundarstufe II, wurden seit dem Beginn der achtziger Jahre am Gymnasium Bern-Neufeld, an der ETH Zürich, der Universität Bern und der PHBern verschiedene Unterrichtseinheiten zu den Themen «Wellen, Licht und Elektronen, Einführung in die Quantenchemie», «Quantenchemie und chemische Bindung», «Quantenchemie und organische farbige Stoffe» sowie «Quantenchemie und Pigmente» verfasst. Diese Unterrichtseinheiten liegen nicht nur für den lehrerorientierten Unterricht vor, sondern z. T. auch als Leitprogramme, wie sie an der ETH Zürich und der Universität Bern in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurden. In einer umfangreichen Feldstudie während der Jahre 2003 bis 2007 wurden die Texte von 34 Lehrpersonen in 39 Klassen mit 530 Schülerinnen und Schülern im Unterricht erprobt. Mithilfe von Fragebögen (Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler), Leistungstests (Schülerinnen und Schüler) sowie Interviews (Lehrerinnen und Lehrer) konnten zahlreiche Rückmeldungen zu den Texten und zu ihrer Brauchbarkeit im Unterricht eingeholt werden [1]. Dies führte zu einer völligen Neubearbeitung und Neugliederung der Unterrichtseinheiten, die nun im Rahmen eines IdeenSets der PHBern vorliegen.

 

Für Fragen, Hinweise, Ergänzungen und sonstige Bemerkungen wende man sich direkt an Günter Baars: guenter.baars@bluewin.ch

Vorstellungen und Vorkenntnisse

Die vier Module und die beiden Leitprogramme werden von vielen Lehrpersonen vor allem im Schwerpunkt B/C und im Ergänzungsfach verwendet. Der Autor dieser Texte hat jedoch während Jahrzehnten die Quantenchemie und die Chemie farbiger Stoffe auch in das Grundlagenfach integriert. Je nach Randbedingungen (Anzahl Chemielektionen, Sonderwochen etc.) ist das möglich, ohne dass andere Inhalte gekürzt werden müssen.
Das Modul «Wellen, Licht und Elektronen, Einführung in die Quantenchemie» kann schon im Gym 1 mit den Schülerinnen und Schülern diskutiert werden, sobald ein strukturiertes Atommodell zur Verfügung steht. Mathematisch genügen die Grundkenntnisse der Algebra.

Für «Quantenchemie und chemische Bindung» sollten die Schülerinnen und Schüler über die verschiedenen Bindungstypen Bescheid wissen, die Winkelfunktionen kennen und, wenn möglich, die wichtigsten Regeln der Infinitesimal-Rechnung beherrschen. Aber auch ohne Kenntnisse der höheren Mathematik lässt sich das Modul gut erarbeiten, die etwas komplizierteren Rechnungen können dabei ohne Wissensverlust übergangen werden. In diesem Zusammenhang bietet sich eine Zusammenarbeit mit Mathematikkolleginnen und Mathematikkollegen an.
Die beiden Module zur Farbigkeit von Stoffen sind ohne Kenntnisse von Kohlenstoffverbindungen und Komplexchemie sowie den ersten beiden Modulen nicht zu bewältigen. Es bleibt der Lehrkraft überlassen, den geeigneten Einstieg im Chemielehrgang zu bestimmen. In diesem Zusammenhang bieten sich Abstecher zum Färben von Wolle mit Naturfarben [2] und in die Freskomalerei, mit Exkursionen zu den Highlights in Italien an (Paestum, Pompeji, Neapel und Rom).

Methodische Ausrichtung

Das IdeenSet bietet zwei methodische Zugänge zum Thema:

Lehrerorientierter Unterricht

Beim lehrerorientierten Unterricht steht die Lehrperson im Mittelpunkt. Sie leitet das Unterrichtsgeschehen; stellt Fragen; führt Experimente aus bzw. leitet Schülerinnen und Schülerexperimente; regt die Diskussion zwischen Schülerinnen und Schülern an; gibt Zeit zum Überlegen; geht auf Anregungen und Ideen ein; fasst Gedankengänge zusammen; lässt Lernaufgaben lösen; ist dafür besorgt, dass alle Schülerinnen und Schüler sich am Unterrichtsgeschehen beteiligen; ist selber von der Materie begeistert; führt den Unterricht derart, dass die Schülerinnen und Schüler zu eigenen Fragen, zu eigener Wahrnehmungstätigkeit und zum Verstehen des Erkenntniswegs angeregt werden. Die Lehrperson soll nicht lehren, sondern leiten, die geistige Selbständigkeit nicht behindern, sondern fördern.

Leitprogramm1

Ein Leitprogramm ist ein Heft, in dem das Stoffgebiet auf leicht verständliche Art dargestellt ist. Der Text leitet die Schülerinnen und Schüler durch den Unterricht („Leitprogramm“). Er enthält zu jedem Kapitel Lernziele, Übungen mit detaillierten Lösungen, Hinweise auf ausgewählte Literatur, Anleitungen für die Erarbeitung des Stoffs, Aufträge für Experimente, Beobachtungen, Simulationen etc sowie eine Lernkontrolle nach jedem Kapitel. Diese umfasst einige wenige Fragen zum vorangegangenen Kapitel und wird von der Lehrperson abgenommen. Nach bestandener Prüfung wird das nächste Kapitel in Angriff genommen. Bei Nichtbestehen arbeiten die Schülerinnen und Schüler das Kapitel nochmals durch. Danach treten sie wieder zum Test an. Das Leitprogramm erlaubt ein Selbststudium (individualisierter Unterricht). Die Schülerinnen und Schüler bestimmen das Arbeitstempo selber. Sie arbeiten abwechselnd alleine, mit einem Partner oder in kleinen Gruppen, wobei das „Mastery Prinzip“ zum Tragen kommt: Ein neues Kapitel wird erst begonnen, wenn das vorausgehende wirklich „gemeistert“ ist. Dadurch lernen die Schülerinnen und Schüler ihr Lernen zu organisieren. Die Schnelllerner sind nicht zur Untätigkeit verurteilt, sie arbeiten am Zusatzmaterial, dem „Additum“, wenn sie das „Fundamentum“ bewältigt haben.

Lerngegenstand und thematische Schwerpunkte

4 Module für einen lehrer*innenorientierten Unterricht („entdeckendes Lernen“)

Modul 1
Wellen, Licht und Elektronen Einführung in die Quantenchemie

Grundlegende Begriffe der Wellenlehre werden im ersten Kapitel behandelt: Transversal- und Longitudinalwellen, harmonische Wellen, konstruktive und destruktive Interferenz, stehende Wellen.
Die Auswertung verschiedener Experimente zeigt dann in den folgenden Kapiteln, dass Licht wie Elektronen sowohl Teilchen- als auch Welleneigenschaften aufweisen. Ausserdem können schwingungsfähige Systeme, und dazu gehören auch die Atome, nur ganz bestimmte Schwingungszustände einnehmen: Elektronen bilden stehende Wellen in einem Atom.

Modul 2
Quantenchemie und chemische Bindung

Wie beschreibt man stehende Elektronenwellen in einem Atom? Diese Frage wird anhand des Grundzustands und des ersten angeregten Zustands des Elektrons eines Wasserstoff-Atoms beantwortet. Die dabei gewonnenen Kenntnisse lassen sich auf Atome mit mehr als einem Elektron übertragen. Damit ist der Weg frei für die Bildung von Elektronenpaarbindungen und somit auch für das Verständnis komplexerer Moleküle aus den Nichtmetallatomen, wie z. B. der 2. Periode.

Modul 3
Quantenchemie und organische farbige Stoffe

Wann sind Stoffe farbig? Anhand von Carotinoiden lässt sich zeigen, dass die Moleküle/Ionen farbiger Stoffe mehr oder weniger ausgedehnte Systeme konjugierter Doppelbindungen enthalten. Die dabei delokalisierten Elektronen können, je nach Länge des Systems, im sichtbaren Bereich der elektromagnetischen Strahlung bestimmte Wellenlängen (Farben) absorbieren. Der Rest der reflektierten Wellenlängen (Farben) entspricht der Substanzfarbe.
Mithilfe des eindimensionalen Kastens und verschiedenen Farbstoffgruppen (Polyene, Phenylpolyenale und ihre Salze, Cyanine) lässt sich die Abhängigkeit der absorbierten Wellenlängen von der Länge des Systems konjugierter Doppelbindungen und den Endgruppen der Moleküle/Ionen experimentell herleiten.

Modul 4
Quantenchemieund Pigmente

Das Modul beginnt mit der praktischen Herstellung eines Periodensystems aus Fresken: die ausgewählten Elemente werden mit Pigmenten dargestellt, in denen das jeweilige Element vorkommt. Dadurch lernen die S+S die Technik der Freskomalerei und verschiedene Pigmente kennen. Beispiele aus den Höhepunkten der europäischen Freskomalerei ergänzen die Betrachtungen.
Das kurze Kapitel 2 stellt, als Repetition des Moduls 2, den Zusammenhang zwischen Licht und Farbe her. Schliesslich, im Kapitel 3, erfolgt über den Aufbau von Übergangsmetallkomplexen die Anwendung der Ligandenfeldtheorie auf die verschiedenen möglichen Komplexe. Je nach Besetzung der Orbitale in den Komplexen ergeben sich unterschiedliche Absorptionsmaxima und damit die verschiedenen Substanzfarben. Schliesslich wird noch der Einfluss der Liganden auf die Farbe eines Komplexes experimentell untersucht.

Das grundlegende Modul 1 (Wellen, Licht und Elektronen) lässt sich von den Lehrpersonen je nach Bedürfnis mit den drei anderen Modulen kombinieren. Die Texte sind als (gedruckte) Unterrichtsmittel sowohl für die Lehrerinnen und Lehrer als auch für die Schülerinnen und Schüler gedacht:

2 Leitprogramme für einen schüler*innenorientierten Unterricht

Leitprogramm 1
Quantenchemie und chemische Bindung

Entspricht inhaltlich den Modulen 1 & 2

Leitprogramm 2
Quantenchemie undorganische farbige Stoffe

Entspricht inhaltlich den Modulen 1 & 3

Organisation und Beurteilung

Der experimentelle Aufwand vor allem für das Modul 1 ist gross, die Bereitstellung des Materials damit aufwendig (Slinky-Feder, Stimmgabeln, Gummiseil zum Anregen, Laser für Beugungsversuche, Material für den Fotoelektrischen Effekt, Kathodenstrahlrohr, Elektronenbeugungsröhre, Prisma, ein Musikinstrument).
Bei der Verwendung des Leitprogramms 1 sollten alle Experimente gleichzeitig vorhanden sein, da die Schülerinnen und Schüler die einzelnen Kapitel mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bearbeiten.
Das Modul 2, das sich einer genauen Analyse der Wellenfunktionen widmet, erfordert einige grundlegende Kenntnisse der Mathematik: abklingende Exponentialfunktionen, Polarkoordinaten sowie die Winkelfunktionen. Ein sorgfältiges, langsames Vorgehen ist angebracht.
Die Literatur [2] enthält ein Unterrichtsprotokoll, in dem die Einführung der Quantenchemie und die Chemie farbiger Stoffe im Detail aufgezeichnet sind. Auf ca. 90 Seiten kann man verfolgen, wie aufgrund von Fragen der Lehrperson, von Phänomenen verschiedener Experimente, von Diskussionen zwischen den Schülerinnen und Schüler, von Lehrperson und Schülerinnen und Schülern allmählich die Grundlagen der Quantenchemie und der Chemie farbiger Stoffe erarbeitet wurden.
Die beiden «Farbmodule» enthalten Hinweise zu den benötigten Chemikalien, die zum Teil, wie die Phenylpolyenale, wegen ihrer geringen Haltbarkeit von der Lehrkraft synthetisiert werden müssen. Um mit einer grösseren Gruppe Fresken zu malen (Modul 4), braucht es etliches Material. Eine frühzeitige Planung ist deshalb unabdingbar (Plastikeimer, Holzstäbe, Schwingbesen, Spachtel, Maurerhobel usw.). Wichtig ist auch, gelöschten Kalk [Ca(OH)2] einige Wochen vor dem geplanten Unterricht mit Wasser zu mischen und von Zeit zu Zeit gut umzurühren. Die Pigmente erhält man von der Firma Kremer Pigmente.
Hinsichtlich Beurteilung bleibt es den Lehrkräften überlassen, welche Art Prüfungen sie anwenden wollen. Jedes Modul enthält zahlreiche Übungen mit Lösungen.

Lehrplanbezug

Die Quantenchemie ist heute an praktisch allen Schweizer Gymnasien zumindest Inhalt des Schwerpunkts Biologie/Chemie wie auch des Ergänzungsfachs.
Im Lehrplan des Kantons Bern lauten die entsprechenden Passagen:
Schwerpunktfach: Grobziele und Inhalte GYM3/GYM4
-    Grundlegende quantenchemische Modellbetrachtungen anstellen (Welle-Teilchen-Dualismus)
-    Quantenchemische Modelle auf chemische Probleme anwenden (Einfaches quantenchemisches Atom- und Molekülmodell.)


Ergänzungsfach: Grobziele und Inhalte GYM3/GYM4
Farbe, Licht und Materie
Das Phänomen Farbe wird als Interaktion zwischen Licht und Materie verstanden. (Farbstoffe, z. B. organische Farbstoffe [Modul 3], Pigmente [Modul 4], Textil-Färben [1], quantenchemische Grundlagen [Module 1 und 2].

Quellen

[1] Baars, G., 2011: Quantenchemie farbiger Stoffe mit Heisenberg und Einstein. hep-Verlag. Bern. S. 35 – 128 und S. 163 – 174; www.hep-verlag.ch/chemie-zusatzmaterial-lehrpersonen
Wie unterrichtet man die Quantenchemie? Auf rund 90 Seiten ist man mitten im Unterrichtsgeschehen. Ausserdem enthält das Buch die Ergebnisse einer Feldstudie, die die drei Unterrichtsformen «Lehrerorientierter Unterricht», «Leitprogramme» und «Lehrstück-Unterricht» mit dem gemeinsamen Thema «Quantenchemie und Chemie farbiger Stoffe» vergleicht.


[2] Baars, G., 2008: Handbuch der experimentellen Chemie, Sekundarbereich II. Band 10: Funktionelle Gruppen, Fette, Farbstoffe. Aulis Verlag Deubner. Köln. S. 277 – 365
Das Kapitel Farbstoffe enthält vertiefte wissenschaftliche Grundlagen zu folgenden Themen: «Warum sind Stoffe farbig?»; «Die Struktur der Moleküle organischer farbiger Stoffe»; «Das Elektronengas-Modell»; «Die Abhängigkeit der Substanzfarbe am Beispiel ausgewählter farbiger Stoffe»; «Solvatochromie; wie man Mesomerie-Effekte sichtbar macht» und «Das Färben von Naturfasern mit Naturfarbstoffen». Didaktische Hinweise zur «Behandlung der Farbigkeit von Stoffen im Chemieunterricht» runden den theoretischen Teil ab, der der Lehrperson durch vermehrtes Hintergrundwissen einen grösseren Überblick hinsichtlich der Farbigkeit von Stoffen ermöglicht.
Ein praktischer Teil enthält neben den im Lehrstück behandelten Phenylpolyenalen zahlreiche weitere Experimente bis hin zur Organisation einer Studienwoche, in der bis zu 20 kg Wolle gefärbt werden: «Carotinoide im Alltag»; «Abhängigkeit der maximalen Absorption eines farbigen Stoffs von der Anzahl konjugierter Doppelbindungen in den Molekülen»; «Abhängigkeit der maximalen Absorption eines farbigen Stoffs von der Art des Lösemittels»; «Das Färben von Wolle mit Naturfarbstoffen im Rahmen einer Studienwoche» mit ausführlichen Färbevorschriften.
Die hier anschliessend vorgestellte und kommentierte Literatur zur Quantentheorie und Chemie farbiger Stoffe ist auch heute noch aktuell, obwohl die Erscheinungsdaten schon etliche Jahre zurückliegen.