Digitalisierung und Chancen(un)gleichheit

Nicht nur in Zeiten von Corona kämpft die Institution Schule damit, ihrem eigenen Anspruch auf mehr Chancengleichheit gerecht zu werden. Vor dieser Herausforderung steht sie ganz grundsätzlich und in besonderem Masse in heutigen Migrationsgesellschaften. “Chancengleichheit” heisst, allen Schülerinnen und Schüler gleichen Zugang zu Bildung und damit die Entfaltung ihres Entwicklungspotenzials zu ermöglichen. Bildungsforschung seit den 1960er Jahren zeigt jedoch auf, dass unsere Bildungssysteme soziale Ungleichheiten nicht abbauen, sondern vielmehr vergrössern und auch legitimieren. 

Um in der Schule erfolgreich zu sein, spielt es eine Rolle, mit welchen Voraussetzungen die Schülerinnen und Schüler ihre Schulkarriere antreten und wie gut sie die impliziten Anforderungen der Schule zu erfüllen vermögen: Dazu gehören nicht nur ein Grundinteresse an, sondern auch ein Vorwissen zu schulischen Themen und Fächern sowie das Beherrschen der Bildungssprache. Ebenso gehören Bedingungen dazu, die es ermöglichen selbständig und konzentriert die von aussen herangetragenen Aufgaben zu lösen, oder die Schulsachen am richtigen Ort zu haben. Ganz besonders schwierig ist dies alles für Kinder mit besonderem Bildungsbedarf.  

Die ungleichen Ausgangsbedingungen treten in der aktuellen Situation deutlicher denn je zu Tage. Sie verschärfen sich mit der Schliessung der Schulen und dem in kürzester Zeit eingeführten Fernunterricht nochmals um ein Vielfaches. Die Ressourcen der Familien, ihre Kinder zu unterstützen, sind in dieser Situation unterschiedlich. Was sich jetzt in manchmal dramatischer Weise zeigt, sind Schwierigkeiten, die zumeist auch schon vorher bestanden. Fernunterricht setzt Ressourcen voraus, über die längst nicht alle Familien verfügen. Lehrpersonen, Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen und weitere Speziallehrpersonen und Fachpersonen können durch die Schliessung der Schulen nun nicht mehr gleich präsent sein, um hier ausgleichend zu wirken. Sie sind gezwungen, ganz vieles aus den Händen zu geben, was sie gewöhnlich während der Schulzeiten beobachten und begleiten sowie positiv zu beeinflussen versuchen. Zugleich wird in der aktuellen Krise auch sichtbar, dass Digitalisierung neue Möglichkeiten schafft, wie pädagogische Fachpersonen ihre Schülerinnen und Schüler begleiten können. Die zur Verfügung stehenden Medien, Apps und Tools lassen vielfältiges Lernen und Lehren zu. Damit die Chancen der Digitalisierung genutzt werden können und nicht – und diese Gefahr besteht in der momentanen Situation – die bestehenden Ungleichheiten aus dem analogen in den digitalen Bereich verschoben werden, bedarf es einer Verknüpfung von digitaler, fachdidaktischer und (heil)pädagogischer Expertise.  

In ihrem Anspruch an pädagogische Professionalität stossen Schulleitende, Lehrpersonen und Speziallehrpersonen aktuell an Grenzen: Wie können beispielsweise Lehrpersonen das Arbeitsbündnis mit Schülerinnen und Schüler und ihren Eltern aufrechterhalten und weiter pflegen, ohne ihre Arbeitszeiten noch mehr zu entgrenzen? Wie können die einzelnen Schülerinnen und Schüler auch aus der Ferne in ihren Bildungsprozessen von verschiedenen schulischen Fachkräften bestmöglich darin unterstützt werden, ihre individuellen Potenziale zu entfalten und gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen? Wie können diskriminierende Effekte vermindert oder gelindert werden? 

In einer Krisenzeit treten soziale Ungleichheiten besonders deutlich zu Tage. Die von den Lehrpersonen und dem erweiterten pädagogischen Team beeindruckend schnell entwickelten Lernbegleitungen müssten nun in gemeinsamen Anstrengungen weiter optimiert werden im Hinblick auf die verschiedenen Hintergründe und Ressourcen der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern. Dabei bedarf es in vielen Fällen einer Erweiterung des Netzwerkes zwecks Unterstützung und Begleitung einzelner Schülerinnen und Schüler und deren Eltern. 

Auf der hier in Entwicklung begriffenen Plattform werden differenzsensible Ansätze dargestellt, welche in bestehende Lernarrangements eingebracht werden können. Die Autor*innen suchen im Dialog mit pädagogischen Fachpersonen nach Wegen, damit soziale Ungleichheit in unterschiedlichen Ausprägungen nicht durch die aktuellen Umstände zusätzlich vergrössert wird. Ziel dieser Anstrengungen ist es, Lehrpersonen und Speziallehrpersonen darin zu unterstützen, damit diejenigen Schülerinnen und Schüler und diejenigen Familien, die am meisten zu kämpfen haben, nicht alleine gelassen werden. 

Kontakt

Arbeitsgruppe "Digitalisierung und Chancen(un)gleichheit"

Think Tank Medien und Informatik (TTIM)
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