Auf Knopfdruck in einer anderen Welt

Martin Dobricki leitet das neue Schwerpunktprogramm "Bildung und digitale Technologien" an der PHBern. Mit seinem Spezialgebiet, der Virtual Reality, will er das Lernen und Lehren unterstützen.
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Martin Dobricki an der PHBern

Martin Dobricki forscht an der PHBern.

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"Ich stelle es mir entsetzlich vor, nur noch in virtuellen Welten zu leben." Das sagt nicht irgendein Technikfeind, sondern Prof. Dr. Martin Dobricki. Er ist ausgewiesener Spezialist für Virtual Reality (VR) und Leiter des neuen Schwerpunktprogramms "Bildung und digitale Technologien" an der PHBern. Der 44-Jährige mag die reale Welt, das echte Gegenüber, die Interaktion. Genauso faszinieren den promovierten Psychologen aber virtuelle Welten, die er auch selbst am Computer erstellt.
Das neue Schwerpunktprogramm verfolgt das Ziel, vielfältige Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu ermöglichen und zu bündeln. Die Forschenden können darin den Fragen nachgehen, ob und wie mittels digitaler Technologien wie VR oder Robotik das Lernen und Lehren unterstützt und gefördert werden können – für pädagogische, psychologische und biologische bis hin zu fachdidaktischen Fragestellungen soll Platz sein.

"Das Potenzial der Technik für die Schule ist gross", sagt Dobricki. Und denkt etwa an eine Schulklasse, die dank VR-Brillen plötzlich mitten in einer Burgruine steht. "Räumliche und zeitliche Dimensionen lassen sich in Sekunden überwinden." Neue Tools seien aber nicht per se gut, nur weil sie digital sind, relativiert Martin Dobricki. "Auch VR ist nicht das ultimative Tool, das man für alles einsetzen muss. Die Frage, was didaktisch Sinn ergibt und Wirkung zeigt, muss immer im Zentrum stehen. Und bei so mancher Idee stellt sich heraus, dass bisherige analoge Möglichkeiten besser geeignet sind." Mit seinen virtuellen Welten will Martin Dobricki etablierte Lehr- und Lernformen ergänzen, nicht verdrängen. "Eine VR-Welt ersetzt nicht ein Buch und nicht die Fantasie – sie ersetzt gar nichts. Aber sie kann etwas Neues hineinbringen."

Überfachliche Kompetenzen mit digitalen Tools fördern
Die digitale Technologie gewinnt seit Jahren an Bedeutung, der Umgang damit erfordert neue bzw. andere Kompetenzen. Man nennt sie gemeinhin Querschnittskompetenzen oder transversale Kompetenzen. Im Lehrplan 21 heissen sie überfachliche Kompetenzen. Im Kontext der digitalen Transformation werden etwa die Fähigkeiten, komplexe Informationen zu verarbeiten oder neue Formen der Kommunikation anzuwenden, immer wichtiger. "Im Schwerpunktprogramm fahren wir zweigleisig", sagt Martin Dobricki. "Wir erörtern im Feld durch Interviews mit Expertinnen und Experten, welche transversalen Kompetenzen notwendig sind, um digitale Technik optimal zu nutzen. Und wir untersuchen im Labor in Experimenten mit Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern, wie digitale Instrumente dazu beitragen können, diese und weitere Kompetenzen aufzubauen." Basierend auf den Forschungsresultaten werden schliesslich Kurse entwickelt, in denen Lehrpersonen die untersuchten digitalen Instrumente kennenlernen und dann in ihrem Unterricht einsetzen können.

Zwei grössere Projekte verfolgt der VR-Spezialist im Moment. Eines ist bereits gestartet, eines existiert erst in seinem Kopf. Angelaufen ist ein Projekt zum Thema Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), in Kooperation mit Prof. Dr. Fred Mast vom Institut für Psychologie der Universität Bern. "Hier wollen wir die VR-Technologie nutzen, um Primarschülerinnen und Primarschülern aufzuzeigen, wie sich das eigene Verhalten – zum Beispiel Kaufentscheide – auf die Umwelt auswirkt. Im realen Leben sind diese Zusammenhänge oft nicht sichtbar. In einer virtuellen Welt lassen sie sich in vielfältiger Weise darstellen."

Ein Hauptziel von schulischer Bildung ist, dass Kinder in der Schule Kompetenzen erwerben, die ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. "VR besitzt hier grosses Potenzial", zeigt sich Martin Dobricki überzeugt. "Alltagssituationen können realitätsnah dargestellt und mit mehreren Sinnen gleichzeitig erlebt werden. Die Lernerfahrung hat hier maximale Intensität", sagt Dobricki.

Das Virtual-Reality-Klassenzimmer

Erst in Dobrickis Vorstellung, dafür bereits in lebhaften Bildern, existiert ein virtuelles Schulzimmer. "Sobald man die VR-Brille anzieht, befindet man sich im Schulzimmer", erklärt der Forscher. "Dort treffen Studierende oder Weiterbildungsteilnehmende beispielsweise auf Schülerinnen und Schüler, die auffallen. VR kann auf diese Weise eingesetzt werden, um die Kommunikation im Schulzimmer zu trainieren." Neben dem Einsatz in der Aus- und Weiterbildung könnte ein solches Klassenzimmer auch der Grundlagenforschung dienen. Indem zum Beispiel mit Eye-Tracking das Blickverhalten von Lehrpersonen untersucht wird. "Studien zeigen, dass Lehrpersonen mit steigender Unterrichtserfahrung ihr Augenmerk auf andere Zonen im Klassenzimmer legen. Mit einem VR-Klassenzimmer könnte man solche komplexe Informationsverarbeitung in einem standardisierten, wiederholbaren Setting untersuchen."

Das neue Schwerpunktprogramm ist integraler Bestandteil von BeLEARN, einem Verbund mehrerer Schweizer Hochschulen, darunter der PHBern, mit Sitz in Bern. BeLEARN will die Chancen der digitalen Transformation für die Bildung untersuchen und nutzbar machen. Martin Dobricki ist die Verbindungsperson zwischen der PHBern und BeLEARN. Im Fokus des 2021 gegründeten Vereins steht die Translation, also die Brücke zwischen Forschung und Praxis. Dieser Punkt ist Martin Dobricki wichtig: "Ich will Forschung und Entwicklung betreiben, die in der Praxis ankommt und genutzt wird. Aus diesem Grund werden wir die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrpersonen im Vorfeld abholen und während des Entwicklungsprozesses den Kontakt mit der Praxis halten." Dobricki betont: "Wir werden nicht fertige Produkte liefern, sondern Grundlagen, die weiterentwickelt werden können. Zu diesem Zweck werden wir alle unsere Entwicklungen als Open Source zur Verfügung stellen."

Dank digitaler Transformation ein gefragter Forscher

Die Möglichkeiten von VR in Bezug auf das Lernen und Lehren sind gross. Kennengelernt hat Martin Dobricki die Technik indes in einem anderen Rahmen: als Forschungstool in seiner Zeit als Postdoktorand. "In der experimentellen Psychologie interessiert uns, wie die Wahrnehmung und die Handlungen des Menschen funktionieren. Mit VR lässt sich das sehr kontrolliert untersuchen."

Am Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in Tübingen hat er sich weiter ins Thema vertieft und die Forschungsgruppe "Wahrnehmung und Handlung in virtuellen Umgebungen" geleitet. Zuletzt war er am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB) tätig. "Dass das Interesse an mir und meinem Gebiet durch die digitale Transformation so zunimmt, damit habe ich gar nicht gerechnet", schmunzelt Dobricki.
 

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Die Forschung an der PHBern

Die Forschung an der PHBern ist in Schwerpunktprogrammen organisiert. In ihnen werden Forschungsprojekte mit thematisch ähnlichem Fokus gebündelt. Die Schwerpunktprogramme tragen dazu bei, Forschende und Dozierende aus verschiedenen Instituten zusammenzuführen, sodass Kompetenzen ausgetauscht und aufgebaut werden können. Die wissenschaftlich begründeten Erkenntnisse helfen mit, die Schule und den Unterricht weiterzuentwickeln und die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

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