Kolumne: Alle Kinder sollen ihr Potenzial ausschöpfen können

Die Schule funktioniert auch im Fernunterricht, aber die Chancengleichheit bleibt auf der Strecke.
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Ein Gastbeitrag aus der Zeitung "Der Bund" vom 27. März 2020 von Andrea Schweizer, Leiterin des Institut Sekundarstufe I, und Daniel Steiner, Leiter des Instituts Vorschulstufe und Primarstufe.

Innert kürzester Zeit haben die Schulen in einer beeindruckenden Art und Weise den Fernunterricht organisiert und etabliert. Mit viel Kreativität, Engagement und pädagogischem Know-how machen die Lehrpersonen das Beste aus der Situation. Sie halten per Post, E-Mail, Telefon oder Videokonferenz Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern. Sie stellen reichhaltige Aufgaben bereit und helfen, dass das schulische Lernen nicht stillsteht und in den Familien eine Tagesstruktur erhalten bleibt. Gleichzeitig findet innerhalb von wenigen Wochen ein Schub beim digitalen Lernen statt, der sonst Jahre gedauert hätte. Dies gilt auch für die Pädagogische Hochschule PHBern, wo die Studierenden ihr Studium im Distance-Learning-Modus fortführen, mit dem Ziel, im kommenden Juni das Semester regulär abschliessen zu können.

Schule und Studium finden – unter sehr erschwerten Bedingungen – trotzdem statt. Dies die gute Nachricht. Was uns Sorgen macht: Die Chancengleichheit bleibt in Zeiten des Fernunterrichts teilweise auf der Strecke. Eine der Chancengleichheit verpflichtete Schule verfolgt das Ziel, dass die Herkunft, der Bildungsstand der Eltern, das Geschlecht, die soziale Stellung der Familie oder das Quartier, in dem ein Kind aufwächst, keine Rolle spielen sollen für den schulischen Erfolg und die Berufswahl. Ein Anspruch, den die Schule auch in normalen Zeiten bis heute nicht immer einzulösen vermag. Besonders betroffen sind aktuell Kinder, die zu Hause nicht unterstützt werden können. Chancengleichheit würde aber bedeuten, dass alle Kinder und Jugendlichen ihr Potenzial ausschöpfen können. Wie dies im Fernunterricht zu gewährleisten wäre, ist eine noch nicht beantwortete Frage.

Kindergarten und Schule bedeuten für viele Schülerinnen und Schüler zuerst einmal Stabilität, Sicherheit und Verlässlichkeit, was insbesondere für Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen wichtig ist. Gerade für sie ist es aber auch ein Ort, wo sie vieles finden, was für ihren Bildungsweg wichtig ist, so auch den Zugang zu digitalen Medien und einen sinnvollen, kritischen Umgang damit. Schule als ein solcher Ort fällt nun in Zeiten des Fernunterrichts weg. Dabei passiert das Wichtigste zuerst: Wenn ein Kind mit vier oder fünf Jahren in den Kindergarten kommt, erschliesst es sich eine neue Welt. Hier lernt es Gleichaltrige kennen, hier trifft es auf andere Werte, hier lernt es sich zurechtfinden. Und es lernt etwas vom Wichtigsten: dass es selbstwirksam ist, dass es Strategien entwickeln kann, um Probleme zu lösen, mit denen es bisher nicht konfrontiert war.

Was für Kinder zwischen vier und acht Jahren gilt, findet später seine Fortsetzung. Auch auf der Mittelstufe und auf der Sekundarstufe I ist die Schule enorm wichtig für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. Wer Menschen, die unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen sind, fragt, was sie stark gemacht hat, bekommt häufig zur Antwort: «Es war eine Lehrperson, die mich gefördert, die an mich geglaubt hat und die mir Mut gemacht hat.» Natürlich ist auch der Austausch unter den Kindern und Jugendlichen ganz wichtig. In Gruppenarbeiten oder auf dem Pausenplatz findet soziales Lernen statt. All dies ist jetzt eine Zeit lang nicht möglich. Das müssen wir akzeptieren, und gleichzeitig erkennen wir, wie wichtig in normalen Zeiten all diese Lernmöglichkeiten, die persönliche Beziehung und der Austausch sind.

Auch an der PHBern bleibt beim Distance Learning viel auf der Strecke. Zwar werden wir rasch fit für den Einsatz von digitalen Lernmethoden. Aber noch rascher wird uns bewusst, wie wichtig der persönliche Umgang, der kleine Scherz auf dem Gang, die Beziehung zwischen Studierenden und Dozierenden sind. Uns wird klar, dass es einen guten Grund gibt, warum wir einen pädagogischen Beruf gewählt haben. Gerade weil er – abgesehen von der gegenwärtigen Durststrecke – nur vor Ort und in engem Austausch zwischen Lernenden und Lehrenden erfolgreich praktiziert werden kann.

Die PHBern möchte in der aktuellen Situation Mut machen, gute Beispiele aufzeigen und den Dialog fördern. Und auch den Anspruch auf Chancengleichheit im digitalen Lernen weiterverfolgen. Informationen zum Fernunterricht und Beiträge von Fachpersonen finden Sie auf phbern.ch/fernunterricht.