Von Jugendlichen, Sozialpolitik und Fehlinformationen

Wem stehen welche Sozialleistungen zu? Ein Forschungsteam der PHBern untersuchte, wie Jugendliche sozialpolitische Entscheidungen treffen und welche Rolle Fehlinformationen dabei spielen. Das Ziel der Studie: die Urteilskompetenz der Jugendlichen stärken.
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"Jugendliche haben eine politische Stimme – wir müssen nur zuhören", erklärt Jakub Sowula, Projektleiter der Studie. Ihre Meinungen zu sozialpolitischen Fragen seien differenziert und wertvoll. Doch politische Urteile basieren nicht immer nur auf Fakten: Gerade in komplexen Themenfeldern wie der Sozialpolitik zeigt sich, dass Fehlinformationen eine erhebliche Rolle spielen können. Besonders eindrücklich wird das am Beispiel der Arbeitslosenversicherung demonstriert: "Während die offizielle Quote zu Unrecht bezogener Arbeitslosenentschädigungen laut SECO bei knapp 1 Prozent liegt, schätzen viele Jugendliche diesen Anteil auf über 20 Prozent."

Nach welchen Kriterien treffen Jugendliche ihre sozialpolitischen Entscheidungen? Und was bedeutet das für die politische Bildung? Das war das Thema der Studie mit über 1'500 Jugendlichen der Sekundarstufe I aus der Deutschschweiz. Damit die Entscheidungen fundiert seien, so Projektleiter Sowula, sei es wichtig, auf Fehlinformationen einzugehen und Desinformation vorzubeugen. Lehrpersonen können hier entscheidende Impulse setzen (siehe Checkliste).

Was untersucht wurde

Jakub Sowula und das Team untersuchten mit Fragebögen, wie junge Menschen über Sozialleistungen urteilen und welche Kriterien sie zur Bewertung heranziehen. Im Zentrum standen diese Fragen:

  1. Welche sozialpolitischen Entscheidungen treffen Jugendliche? Nutzen sie – wie Erwachsene – vereinfachte "Deservingness"-Regeln, also mentale Shortcuts, um zu beurteilen, wer staatliche Unterstützung verdient? Welche Auswirkungen hat das auf ihre Urteile?
  2. Inwiefern beeinflussen vorhandenes Wissen und Fehlinformationen ihre Urteile?
  3. Wie lassen sich die Ergebnisse in der politischen Bildung nutzen, um die (sozial-)politische Urteilskompetenz gezielt zu stärken?

Deservingness – was ist das?

Menschen nutzen vereinfachende Entscheidungsregeln oder eben Shortcuts, um komplexe politische Fragen intuitiv zu beantworten. Ein zentraler Shortcut in der Sozialpolitik ist die "Deservingness": Wer hat es "verdient", staatliche Unterstützung zu erhalten? Kriterien wie Eigenverantwortung, Not, Beitrag zur Gesellschaft, Dankbarkeit, Sympathie und kulturelle Nähe spielen dabei eine Rolle. Die "Deservingness" einer Gruppe wie der Arbeitslosen ist dann eine wichtige Basis unserer sozialpolitischen Entscheidungen. Je höher die empfundene "Deservingness", desto besser soll die soziale Sicherung für die Gruppe sein. Gerade in politischen Kontexten, in denen die Faktenlage komplex ist, bilden Shortcuts wie die "Deservingness" oft die Grundlage, um kompetent zu entscheiden. 

Zeitgleich bergen Shortcuts Risiken, vor allem wenn sie auf falschen Informationen oder Wahrnehmungen basieren und politische Urteile in eine problematische Richtung lenken. Die Studie untersuchte erstmals, ob Jugendliche den "Deservingness"-Shortcut für sozialpolitische Entscheidungen nutzen und wie dieser mit ihrem Wissen und ihren Fehlinformationen zusammenhängt.

Sozialpolitische Themen sind für Jugendliche spannend und sollten im Schulunterricht behandelt werden, denn Einstellungen können sich früh verfestigen.
Jakub Sowula  -  Projektleiter PHBern-Studie

Die zentralen Ergebnisse

  1. Jugendliche haben differenzierte sozialpolitische Einstellungen. Sozialpolitische Fragen können an Schulen diskutiert werden.
  2. Sie nutzen – wie Erwachsene – die "Deservingness"-Shortcuts. Die Shortcuts wirken sich stark auf ihre politischen Entscheidungen aus.
  3. In einigen Bereichen verfügen Jugendliche über fundiertes Wissen, in anderen sind sie systematisch fehlinformiert.
  4. Je überzeugter Jugendliche von ihren Annahmen waren, desto grösser waren ihre Fehleinschätzungen. Und: Je stärker die Fehlinformation, desto stärker der Einfluss auf die Urteile.

Das bedeutet für den Unterricht ...

"Sozialpolitische Themen sind für Jugendliche spannend und sollten im Schulunterricht behandelt werden, denn Einstellungen können sich früh verfestigen", fasst Jakub Sowula zusammen. Deshalb ist politische Bildung bereits auf Sekundarstufe zentral und wird am wirkungsvollsten anhand konkreter, eingegrenzter Themen angegangen. "Bei politischen Informationen sollte immer hinterfragt werden, inwiefern bestimmtes Wissen zu einem Kompetenzzuwachs führen kann oder inwiefern Fehlinformation Kompetenz beeinträchtigen könnte. Dies ist zwingend notwendig in Anbetracht der begrenzten Zeit, die im Unterricht zur Verfügung steht", gibt Jakub Sowula zu bedenken.

Eine weitere Erkenntnis: Fehlinformationen spielen bei der Urteilsbildung eine wichtige Rolle. Um sie zu erkennen, braucht es Methoden, um Desinformationsmechanismen anhand von Beispielen zu entlarven. Darüber hinaus müsse auch über unterschiedliche Darstellungsformen gesprochen werden. "Es wirkt anders, ob man von 3'000 betroffenen Fällen bei 300'000 untersuchten Fällen oder von 1 Prozent spricht, obwohl beide Angaben korrekt sein können", veranschaulicht Jakub Sowula. Lehrpersonen sollten mit den Jugendlichen analysieren, nach welchen Kriterien sie urteilen und ob diese womöglich auf Fehlinformationen fussen.

Nicht zuletzt haben Schulen eine zentrale Rolle in der politischen Bildung, da sie die politische Urteilskompetenz der Lernenden gezielt fördern können. Zum Beispiel mit Rollenspielen oder Tools, die Fehlinformationen gezielt entlarven und die Kompetenzen der Jugendlichen dahingehend stärken. "Desinformationsresistenz" ist hier das Schlagwort. Jakub Sowula setzt sich für weitere Forschung ein, die sich damit beschäftigt, wie Jugendliche ihre Meinung bilden und welche Rolle potenzielle Fehlinformationen spielen. So könne am besten die politische Urteilskompetenz auch in weiteren wichtigen Politikfeldern wie der Klimapolitik gestärkt werden.

Politische Bildung: Checkliste für Lehrpersonen

  1. Kenne ich gängige politische Shortcuts ("Deservingness", Sympathie, Expertise, Parteizugehörigkeit etc.)?
  2. Wurde das Thema politische Urteilsprozesse im Unterricht bearbeitet? Basieren politische Einschätzungen auf Fakten oder Vorannahmen? Wurden Shortcuts angewandt?
  3. Habe ich Fehlinformationen im Unterricht behandelt, z. B. vertrauensvolle Quellen oder das "Bad News Game"?

Weiterführende Materialien und Impulse
–    "Bad News Game" zur Stärkung der Kompetenzen im Bereich der Fehlinformationen und weitere Games
–    Studienbericht zur politischen Urteilskompetenz
–    Unterrichtsmaterial politische Bildung
 

Weiter zur ausführlichen Checkliste

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