Zwischenbilanz und mögliche Strategien für den Fernunterricht

23. April 2020 
Der Fernunterricht bringt ans Licht, was im routinierten Schulalltag selbstverständlich wirkt: Wie grundlegend wichtig die persönliche Beziehung zur Lehrperson, zu den Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen und weiteren Fach-/Bezugspersonen ist und auch wie zentral die täglichen Begegnungen von Schülerinnen und Schülern mit ihren Peers sind. Wenn es darum geht, die Kinder während des Fernunterrichts zu begleiten, zeigt sich jetzt besonders deutlich, wie unterschiedlich die Familien mit Ressourcen ausgestattet sind. Diese sozialen Ungleichheiten wirken immer, jetzt – unter den ausserordentlichen Bedingungen des Fernunterrichts - jedoch exponentiell. 

Chancenungleichheiten zeigen sich in zahlreichen Situationen: Wenn zum Beispiel der für die Bearbeitung der Lernaufgaben zwingend erforderliche Computer gar nicht vorhanden ist; wenn den Eltern die Zeit für Betreuung und Begleitung der Kinder fehlt, weil sie selbst erwerbstätig sind oder sie sich nicht in der Lage sehen, die Kinder bei schulischen Aufgaben zu unterstützen; oder wenn die Informationsschreiben, Elternbriefe, Lernaufgaben der Kinder und Angebote für zusätzliche Unterstützung diejenigen überfordern, die als Erstsprache nicht Deutsch sprechen. 

Lehrpersonen, Schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen und weitere Fach-/Bezugspersonen sind gefordert, die anspruchsvollen und unterschiedlichen Kommunikationserfordernisse zu erkennen und zu bewältigen und zugleich die drohende Verstärkung von Ungleichheit abzuwenden. Wie – durch welche Hilfestellungen, Netzwerke usw. – können sie unterstützt werden?

Die nachfolgend zusammengestellten Punkte sind aus dem Austausch mit Lehrpersonen, Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, Schulleitenden, Speziallehrpersonen und mit Dozierenden der PHBern entstanden. Es ist zugleich ein Rückblick auf die ersten Wochen und ein Ausgangspunkt für die Gestaltung des Fernunterrichts nach den Frühlingsferien. Die Zusammenstellung gibt auch Impulse, um spätere Schulentwicklungsprozesse so zu gestalten, dass Kinder aus Familien in unterschiedlichsten Verhältnissen besser begleitet werden können – analog und digital. 

Stärkung der Ressourcen von Lehrpersonen, Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, Kollegium, weiteren Fach-/Bezugspersonen und Schulleitung

a) Zu sich Sorge tragen und unterstützt werden: Es braucht die gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung im multiprofessionellen Team*, in Unterrichtteams (Lehrpersonen und Schulische Heilpädagoginnen, Heilpädagogen, welche Unterricht gemeinsam verantworten), im Kollegium und durch die Schulleitung, aktuell insbesondere durch Spezialistinnen/Spezialisten Medien und Informatik (SMI).

b) Zwischenbilanz ziehen als Schulleiterin und Schulleiter, Lehrperson, Schulische Heilpädagogin und Schulischer Heilpädagoge, als weitere Fach-/Bezugsperson, als Schule 

  • Was konnte erreicht werden – was nicht?  

  • Wo und wie konnte die Unterstützung gemeinsam geleistet, gefunden werden? 

  • Wo besteht noch Potenzial, Bedarf oder Unsicherheit 

  • Wo braucht es eine Strategieänderung (z.B.: mehr / weniger Einsatz von digitalen Medien; mehr / weniger Zusammenarbeit im Kollegium / Einbezug von Speziallehrpersonen / in Stufenteams; mehr / weniger Vorgaben durch die Schulleitung; mehr / weniger Informationen liefern oder weiterleiten) 

  • Welche Schülerinnen und Schüler bearbeiten die schulischen Aufgaben nicht (mehr) oder nur sehr oberflächlich? Welche Gründe sind zu vermuten? Welche Familien sind vielleicht aufgrund des Fernunterrichts und den damit verbundenen Mehrfachbelastungen besonders herausgefordert? Wie können sie unterstützt werden? Wo braucht die Lehrperson mehr Unterstützung (oder Entlastung) von Seiten der Schulleitung, von Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, von pädagogischen Fachpersonen oder von Fachstellen (Schulsozialarbeit, Erziehungsberatung, Universitäre Psychiatrische Dienste) 

c) Für die Zusammenarbeit von Fachteams, Stufenteams und Unterrichtsteams (Lehrpersonen, Schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen) werden verbindliche Zeitgefässe weitergeführt oder neu geschaffen. 

*(Unter dem Begriff ‚multiprofessionelles Team verstehen wir alle in die Begleitung von Schülerinnen und Schülern involvierten Fachpersonen in und ausserhalb der Schule: Schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, Speziallehrkräfte der Psychomotorik und Logopädie, Schulsozialarbeit, Tagesschulmitarbeitende, auch Personen aus Gesundheitsdiensten, Erziehungsberatung und Universitäre Psychiatrische Dienste, usw.)

Gestaltung der Beziehung zwischen Lehrpersonen, Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, weiteren Fach-/Bezugspersonen, Schülerinnen und Schüler und Eltern

Im familiär-häuslichen Umfeld Räume für schulisches Lernen zu schaffen ist anforderungsreich: Die räumlichen Verhältnisse der Familien sind sehr unterschiedlich, je nach dem ist Lernen ohne ausserfamiliäre Betreuung nicht möglich. Deshalb braucht es die Zusammenarbeit der Schule mit Schulsozialarbeitenden usw. Verantwortungsbereiche werden klar definiert und Grenzen benannt: Kernaufgabe der Lehrpersonen sowie der Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen liegt in der Begleitung von Schülerinnen und Schülern im Lernprozess. Diese Aufgabe leisten sie nun gemeinsam mit den Eltern. Deshalb braucht es adressatinnen- und adressatengerechte Kommunikation, bezogen auf Zyklus bzw. Alter der Schülerinnen und Schüler; bezogen auf die sprachlichen, körperlichen, kognitiven, sozioökonomischen und natio-ethno-kulturellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern. Gefragt sind übersichtliche, verständlich und einfach geschriebene und ggf. übersetzte Informationen und ein bedarfsgerechter Austausch. Die multiprofessionellen Teams sprechen ab, wer bei Schülerinnen und Schülern und Eltern, bei welchen sich die Situation besonders herausfordernd gestaltet, welche Aufgabe der Begleitung und Beratung übernimmt.  

a) Kommunikationskanäle (digital, Telefongespräche, Briefpost) überdenken und bewusst gestalten (Schülerinnen und Schüler sowie Eltern separat, auch Familienbegleitungen, Beistände einbeziehen) klare Zeitfenster definieren (insbesondere in Familien mit mehreren Kindern). 

b) Prioritäten neu festlegen: Momentan ist es wichtiger, den Schülerinnen und Schülern Struktur zu geben, mit ihnen eine Beziehung zu pflegen und sie zu begleiten, als den Stoff möglichst lückenlos zu erarbeiten und Leistungsstände zu erheben. Hierzu braucht es Instrumente und Gefässe für Feedback, formative Rückmeldungen zu Lernprozessen und -ergebnissen, die möglichst zeitnah und ressourcenorientiert erfolgen. 

Erweiterung der/Stärkung von Netzwerken

a) Voraussetzungen für die Begleitung: Fehlende oder improvisierte ausserfamiliäre Betreuung erschwert oder verunmöglicht die Koordination zwischen wechselnden Begleitpersonen und Lehrpersonen, Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen und weiteren Fach-/Bezugspersonen. Kommunikation auch in anderen Erstsprachen ist nötig, um eine tragfähige Zusammenarbeit im Fernunterricht zu etablieren (Unterstützung durch Diaspora TV in Bezug auf Corona-Krise und allgemeine Massnahmen, lokale Netzwerke von Übersetzerinnen und Übersetzern)

b) Herausforderungen und Gefährdungen in den Familien wahrnehmen: Sensibilität gegenüber Phänomenen häuslicher Gewalt und Dekompensation psychischer erkrankter Menschen entwickeln, Einbeziehen von Schulsozialarbeitenden und weiteren Fachpersonen (Erziehungsberatung, Universitäre Psychiatrische Dienste, KESB, Berufsberatungs- und Informationszentren – Berufsberatung für Zyklus 3) 

Fernunterricht digital  

a) Auf Bestehendem aufbauen: Neue Formen und Tools für digitales Lernen gezielt, mit Rücksicht auf die aktuelle Situation von Lehrpersonen, Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, weiteren Fach-/Bezugspersonen, Eltern und Schülerinnen und Schülern einführen. Austausch über eingesetzte Lernplattformen: Welche bewähren sich für die Begleitung von Lernprozessen, für den Austausch über Inhalte und Lernen – mit dem Ziel, dass Schülerinnen und Schüler diese auch ohne zusätzliche Unterstützung bedienen und nutzen können?

b) Technische Voraussetzungen für den Fernunterricht: Ein für alle funktionierendes Kommunikationsnetzwerk etablieren braucht viel Zeit und Kompetenzen: Unterstützung durch SMI Fachleute, damit alle Schülerinnen und Schüler im Umgang mit digitalen Medien unterstützt werden können. 

c) IT-Infrastruktur im häuslichen Umfeld, aber auch grundlegende technische Kompetenzen der Eltern sind Voraussetzung für gelingenden Fernunterricht. Wo diese Voraussetzung nicht genügend gewährleistet ist, müssen Eltern bzw. Betreuungspersonen neben materialer Ausstattung auch fachlich zusätzlich unterstützt werden. Diese Aufgaben liegen im Verantwortungsbereich der Lehrpersonen und Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Sie können bei Bedarf noch weitere Unterstützungsnetzwerke (z.B. Informatikverantwortliche, Schulsozialarbeitende) beiziehen. 

Fernlernen – Hilfestellungen

Gestalten von Lernumgebungen und Lernprozessen  

a) Das Unterrichtsteam (Lehrpersonen und Schulische Heilpädagoginnen/Heilpädagogen) verantwortet den Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf gemeinsam. Die Förderangebote und Lernaufgaben sind aufeinander abgestimmt. Allen Schülerinnen und Schülern werden die Materialien (inkl. Handlungsmaterialien für spezifische Förderung) für die Aufträge zur Verfügung gestellt. Während und unmittelbar nach der ausserordentlichen Zeit des Fernunterrichts werden keine neuen reduzierten Lernziele (riLZ) festgelegt. Der Heterogenität der Lernenden wird mit innerer Differenzierung Rechnung getragen.  

b) Den Eltern bzw. Betreuungspersonen werden im Rahmen des Fernunterrichts Vorschläge zur Strukturierung und Rhythmisierung des Lernprozesses (Stundenpläne: Austausch auf Videoplattformen, Selbstlernzeit mit und ohne Lernbegleitung, Pausen etc., vgl. ERZ, 2020) zur Verfügung gestellt.  

c) Begleitung bei der Strukturierung und Lernmotivation: Die Möglichkeiten digitaler Medien sind per se herausfordernd (Gefahr der Entgrenzung). Weitere Herausforderung: Aufschieben von Lernen, Lernverweigerung; Konflikte zwischen Eltern(teil)-Kind.  Es braucht Formen, die den direkten Kontakt zwischen Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen, Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen herstellen, stärken und die Eltern entlasten: Telefon-/Skype-Gespräche mit Schülerinnen und Schülern sowie Eltern. 

d) Kriterien für die Aufträge der Lehrpersonen und Schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen an die Schülerinnen und Schüler entwickeln:  

  • Motivierende, kreative vielfältige und reichhaltige Aufträge (vgl. ERZ, 2020)  

  • Verständlichkeit von Lernzielen und Lernaufgaben (sprachlich, visualisiert durch Bilder und/oder Videos, Einbezug von unterstützter Kommunikation bei Bedarf 

  • Individualisierung den Ressourcen der Lernenden entsprechend: Anpassungen des Komplexitätsgrades, unterschiedliche Aufgabenmengen, unterschiedliche Hilfsmittel, angepasste Lernbegleitungen 

  • Varianz der Aufträge  

    • am Pult, verschiedene Orte in der Wohnung, draussen 

    • digital und analog 

    • nebst fachlichen Kompetenzen aus dem gesamten fachlichen Spektrum (auch Bewegungsaufträge, musikalische, gestalterische Aufträge etc.) werden auch überfachliche Kompetenzen (personal, sozial, methodisch) erworben 

    • Gestaltungsfreiräume 

  • Gemeinschaftsbildende Rituale mit der ganzen Klasse im Rahmen von gemeinsamen Videosequenzen (z.B. gemeinsames Singen, vgl. ERZ, 2020).  

  • Möglichkeiten des Gruppenlernens – auch digital: Lerngruppen, Tandems bilden. Der potenziellen Stigmatisierung, die bei gegenseitigem Einblick in die privaten Wohnräume und in die unterschiedlichen Lernbedingungen entstehen kann, wird durch umsichtige Massnahmen Rechnung getragen (z.B. Gruppen bewusst bilden, gemeinsame Erfolgserlebnisse ermöglichen) 

  • Korrekturen (auch Selbstkorrekturen); konkretes, förderorientiertes, ermutigendes Feedback durch das Unterrichtsteam (vgl. ERZ, 2020). Auf negatives Feedback (auch in Form von Stempeln – z.B. Regenwolke, weinendes smiley etc,) wird gänzlich verzichtet.  

Quelle

ERZ (2020). Leitfaden der BKD zum Fernunterricht (Stand 14. April 2020). (online). Verfügbar unter: https://www.erz.be.ch/erz/de/index/kindergarten_volksschule/kindergarten_volksschule/corona/fernunterricht.html. (April 2020). 

Kontakt

Arbeitsgruppe "Digitalisierung und Chancen(un)gleichheit"

Think Tank Medien und Informatik (TTIM)
Fabrikstrasse 8
CH-3012 Bern