Halten Sie Abstand - rücken Sie zusammen!

Ein kleines Virus hat enorm grosse Auswirkungen auf unsere sozialen Interaktionen im Alltag. Unser Miteinander hat sich in den letzten Wochen grundlegend verändert. Weshalb fällt es uns manchmal so schwer, Abstandsregeln zu befolgen und wie können wir den Alltag unter den neuen Bedingungen gestalten?

Vor Corona bewegten wir uns intuitiv und mit schlafwandlerischer Sicherheit problemlos in sehr komplexen sozialen Interaktionen. Wir hatten über die Jahre gelernt, wie wir unsere Arbeitskollegen begrüssen, welche interpersonale Distanz wir zu unseren Vorgesetzten einnehmen und wen wir mit einem Augengruss grüssen. Sie wissen nicht, was ein Augengruss ist? Und dennoch beherrschen Sie ihn perfekt. Wenn Sie an einem Morgen zum drittenmal einer Bürokollegin auf dem Gang begegnen, verzichten Sie auf eine wiederholte mündliche Begrüssung, sondern heben im Vorbeibegehen nur leicht die Augenbrauen und grüssen mit den Augen. Mit Corona wird auf einmal alles anders. Was bisher so einfach, automatisch und intuitiv ablief, wurde nun zu einer interaktionalen Herausforderung. Die Interaktionen wurden komplizierter, steifer und unnatürlicher.

Wie viel Abstand empfinden wir als angenehm?
Die Massnahmen des Bundes haben insbesondere einschneidende Wirkungen auf die Regelung der interpersonalen Distanz. Interpersonale Distanz meint in der Sozialpsychologie der Abstand, den man zu einer Person hat, so dass man sich wohl fühlt. In Geschäftsbeziehungen beträgt dieser etwa 1.5 Meter, unter guten Bekannten vielleicht ein Meter und in romantischen Beziehungen so um die 40 cm. Das Einhalten dieser Abstände ist jedoch nicht immer möglich. So vermeiden wir in einem dicht gedrängten Aufzug den Blickkontakt, weil wir zu viel Nähe als unangenehm finden. Nun finden wir uns in einer gegensätzlichen Situation. Wir sollten zwei Meter Distanz einhalten und auch den Händedruck vermeiden. Die Episode, welche sich 2016 im Kanton Basel Land abgespielt hat, in der zwei muslimische Schüler weigerten, ihrer Lehrerin der Hand  zu geben, zeigt, wie verwurzelt das Symbol Händedrucks als Ausdruck der Verbundenheit und der Freundschaft in unserer Kultur ist. Die Abstandregeln erscheinen uns intuitiv unnatürlich, normverletzend, geradezu unhöflich, denn wir signalisieren damit soziale Distanz. Eine soziale Distanz, die wir eigentlich gar nicht möchten.

Soziale oder räumliche Distanzierung
Worte sind nicht einfach Worte. Sie bestimmen, wie wir auf die Welt blicken und wie wir diese wahrnehmen. Der Sprachwissenschaftler Eric Wallis weist richtigerweise darauf hin, dass sich zu Beginn der Corona Krise in offiziellen Mitteilungen vorschnell der Begriff der sozialen Distanzierung durchgesetzt habe. Dieser Begriff ist problematisch, weil er suggeriert, man solle sich von Anderen sozial entfernen. Dabei geht es aber eigentlich vielmehr um eine räumliche Distanzierung. Wir müssen uns von anderen räumlich fernhalten, um das Risiko einer Ansteckung zu vermeiden. Gleichzeitig ist es aber jetzt besonders wichtig, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten und zu pflegen. Es wäre deshalb hilfreich, nicht von einer sozialen, sondern vielmehr einer räumlichen Distanzierung zu sprechen.

Was geschieht normalerweise in der Schule?
Durch die Schulschliessungen wird deutlich, dass die Schule nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch eine wichtige Sozialisationsinstanz ist. E-Learning und Fernunterricht mögen schulische Lernprozesse bis zu einem gewissen Grad ersetzen. Viel einschneidender sind jedoch die fehlenden Kontakte zu Gleichaltrigen. E-Learning und Fernunterricht können die im Unterricht ablaufenden sozialen Entwicklungsprozesse nicht kompensieren. Der Schulalltag ist sozial-interaktional enorm dicht. An einem Morgen wird gestritten, gelacht, Koalitionen geschmiedet und ja, es werden auch Kinder ausgrenzt. Hier ist die Lehrperson gefordert. Sie unterrichtet nicht nur, sondern steuert zahlreiche soziale Prozesse unter den Kindern, ermöglicht soziale Entwicklung und schützt schwächere Schülerinnen und Schüler. Viele Entwicklungsaufgaben können nur mit Gleichaltrigen bewältigt werden. Dazu gehört beispielsweise eine konstruktive Konfliktlösung, also dass man in Konflikten versucht, durch Aushandlung eine Lösung zu finden, mit der beide Seiten gut leben können und nicht versucht, stur seine Interessen gegen den Willen des Gegenübers durchzusetzen oder im Konflikt einfach aus dem Weg läuft. Aushandlungsbasierte Konfliktlösung erwirbt man ungefähr im Alter von zehn Jahren. Und man erwirbt diese nicht in der Familie. Denn die Eltern und die Geschwister können einem die Freundschaft nicht einfach aufkünden. Bei befreundeten Gleichaltrigen muss man sich dagegen schon mehr Mühe geben.

Was bedeutet dies für Eltern von Schulkindern?
Nun lernen die Kinder zu Hause. Vielleicht machen die Eltern auch Home Office. Dies birgt sowohl Chancen wie auch Risiken. Man könnte optimistisch anmerken, dies stärke die Familie, man lerne wieder Zeit miteinander zu verbringen. Dies mag für einige privilegierte Familien vielleicht sogar zutreffen. Familien, welche zu Hause über ausreichend Platz verfügen, welche in der Lage sind, ihre Kinder schulisch zu unterstützen können und welche Arbeitgeber haben, welche Verständnis für die aktuelle Situation aufbringen. Andere Familien wohnen allerdings sehr beengt, verfügen kaum über Rückzugsmöglichkeiten und sind vielleicht auch nicht in der Lage, ihre Kinder schulisch zu unterstützen. Sie sehen sich vielleicht mit gegensätzlichen, kaum vereinbaren Aufgaben konfrontiert. Einerseits sollten sie die Betreuung ihrer Kinder sicherstellen und andererseits den Interessen der Arbeitgeber gerecht werden. Die Grosseltern fallen als Ressource weg. Manche Eltern stehen vor existentiellen Herausforderungen. Ihnen droht der Arbeitsplatzverlust. Ihnen fehlen Rückzugs-möglichkeiten. Stress und Spannungen beeinträchtigen die Gesundheit und steigern das Risiko häuslicher Gewalt. Durch das Virus werden ohnehin bestehende soziale Unterschiede noch einmal massiv verstärkt. 

Was können wir tun?
Was können Familien tun, die auf engem Raum den ganzen Tag in Home Office Situationen verbringen? 

Beziehungen 
Pflegen Sie innerhalb ihrer Wohngemeinschaft soziale Beziehungen. Es ist wichtig, dass man einander auch Rückzugsmöglichkeiten zugesteht. Es ist hilfreich, wenn Eltern authentisch sind. Sprechen Sie mit dem Kind über Ihre und seine Ängste. Es ist wichtig, dass wir in dieser Zeit eine ernsthafte Gelassenheit entwickelt, in welcher der Humor auch nicht ganz fehlt und unsere Erwartungen anpassen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass Kinder und Jugendliche im Fernunterricht gleich viel lernen, wie in der Schule. Hier ist es wichtig, dass Eltern gelassen bleiben und ihre Erwartungen an die schulische Entwicklung ihrer Kinder in dieser Zeit anpassen. 

Beziehungen sind wichtig. Ermutigen Sie ihr Kind, über Mails und Videoanrufe auch soziale Kontakte gegen aussen zu pflegen. So nach dem Motto, gemeinsam allein. Bleibt zusammen. Und bleibt freundlich, wenn ihr auf Abstand geht. Oder wie die dänische Ministerpräsidentin am selben Tag sagte: „Jetzt müssen wir zusammenstehen, indem wir Abstand halten.“ 

Struktur
Es ist wichtig, den Kindern und Jugendlichen ausreichende Strukturen zu vermitteln. Es müssen also fixe Zeiten für die Schule, aber auch die Erholung eingeplant werden. Es hilft den Kindern zu vermitteln, dass Sie den Schulunterricht nicht im Pijama absolvieren. Frühstücken, duschen und das bewusste Einplanen von Freizeit und Pausen. Dazu gehört auch ausreichend Bewegung. Nicht nur Kinder brauchen Bewegung. So ist es auch möglich, als Familie jeden Tag bewusst eine halbstündige Sportstunde im Wohnzimmer einzuplanen. Solche Strukturen geben Halt und vermitteln Sicherheit.

Bei Bedarf Hilfe holen
Schliesslich, suchen Sie bei Bedarf Hilfe. Kontaktieren Sie bei Fragen die Lehrperson oder eine Fachstelle.

Über die Autoren

Prof. Dr. Alexander Wettstein ist Leiter des Schwerpunktprogramms Soziale Interaktion, Wohlbefinden und Gesundheit am Institut für Forschung, Entwicklung und Evaluation der PHBern.
Michael Gerber ist Fachspezialist Unternehmenskommunikation der PHBern.