Von Apps und Apéros

06.04.2020: Trotz des eingestellten Präsenzunterrichts soll der Lernprozess aufrecht erhalten bleiben und zwar für alle ein-, zwei- und mehrsprachigen Kinder und Jugendlichen. Neben Erkundungen inmitten des Digitalisierungsschubs bietet diese aussergewöhnliche Situation etliche Reflexionschancen – zum Beispiel über Bildung in der Migrationsgesellschaft nachzudenken.

Kaum ein Tag vergeht, an dem ich seit den Schulschliessungen am 16. März 2020 nicht von Deutsch-als-Zweitsprache-Lehrpersonen (DaZ) via Online-Unterrichtsberatung um Materialien und Tipps gebeten werde. DaZ-Lehrpersonen bieten Schülerinnen und Schülern, deren Erstsprache z.B. Albanisch, Kroatisch oder Tamilisch ist, Unterstützung für das Erstellen von Scaffoldings von Texten (eine Art Hilfsgerüst oder Vorentlastung) und Wortschatzhilfen an, sie stellen zusätzliche Unterstützungsmaterialien bereit oder überprüfen Arbeitsaufträge auf ihre Verständlichkeit. Lehrpersonen fragen nach Apps, die sie für sprachlernende Schülerinnen und Schüler einsetzen können, oder man erkundigt sich nach Lektüremöglichkeiten für weniger sprachaffine Kinder. Am nächsten Tag gelangen Fachpersonen aus anderen Kantonen mit der Bitte einer Liste empfehlenswerter Apps für den Fernunterricht an meine Adresse. Ob ich die kostenlose DaZini-App empfehlen soll? Die Acho-App für die ersten Schritte in der neuen Sprache ist doch längst bekannt, ebenso die Anton-App. Freudig verweise ich auf die Tatsache, dass die Dienstleistungen der Mediathek der PHBern weiterhin zur Verfügung stehen: versend- und abholbare Materialien, IdeenSets mit einer geeigneten Auswahl für den Fernunterricht – teilweise mit Online-Materialien – oder die erlesene Filmauswahl.

Die hereinprasselnden Anfragen füllen die Lücke von abgesagten Veranstaltungen und motivieren mich, neue Apps zu entdecken oder etwas in Vergessenheit geratene digitale Lerntools in neuem Licht zu sehen. Als Lehrende verstehe auch ich mich immer wieder als Lernende. Hier ist meine kleine, aber feine Auswahl:

Für Deutsch-als-Zweitsprache-Lernende

  • Mit der Multidingsda- App kann der Grundwortschatz geübt werden, unter Einbezug von 14 Erstsprachen. Multidingsda ist während der Zeit des behördlich verordneten Fernunterrichts gratis verfügbar und kann von Lehrpersonen oder Eltern bestellt werden: www.lmvz.ch/schule/multidingsda
  • Interbiblio bleibt wie die meisten Bibliotheken geschlossen, bietet aber viele Apps und Online-Materialien an, insbesondere zum Sprachenlernen: www.interbiblio.ch/de/angebote/deutsch-lernen
  • Die Amira-Webseite stellt u.a. 32 einfache Lesegeschichten in deutscher sowie acht weiteren Sprachen zum Hören und Mitlesen zur Verfügung. Die Geschichten können auch als reine Bilderbücher angeschaut werden: www.amira-pisakids.de

Für den herkunftssprachlichen Unterricht (HSK)

  • Die verschiedenen Bände der Reihe zur Erstsprache bieten Hintergrundinformationen sowie konkrete Vorschläge für die schulische Praxis an (Deutsch, Bosnisch/Kroatisch/Mazedonisch, Portugiesisch, Türkisch): myheritagelanguage.com

Für mehrsprachige Eltern

  • Tipps zum Fernunterricht zu Hause und zum Familienalltag während der Coronapandemie gibt es zurzeit nach dem Bring-Prinzip in 13 Sprachen. Die Parentu-App für informierte Eltern schickt Informationen und Anregungen zur Erziehung und zur kindlichen Entwicklung via Pusch-Nachrichten direkt auf das Smartphone der Eltern: www.parentu.ch
  • Die Videoclips Lerngelegenheiten und Frühe Sprachbildung sind in viele Sprachen übersetzt und geben Eltern Hinweise, wie sie ihre Kinder sprachlich unterstützen können. Den Eltern kann ein Link mit der Einstellung in ihrer Erstsprache direkt zugeschickt werden: www.kinder-4.ch

Informationen zum Coronavirus – in vielen Sprachen

Mit der Fernunterrichtsoffensive schalten einige Softwarehersteller und Verlage kurzzeitig kostenlos ihre Lizenzen frei. Es gibt neben hilfreichen Empfehlungen digitaler Lerntools auch Tipps zu Offline-Aktivitäten, denn es gilt, eine gute Balance zwischen Bildschirmzeit und analogem Lernen zu beachten. Doch jede noch so ausgeklügelte App kann weder den Präsenzunterricht als elementaren Bestandteil noch die sozialen Kontakte ersetzen. Selbst wenn regelmässig ein 1:1-Kontakt zwischen Lehrperson und Schülerin oder Schüler via Telefon, Chat oder Videobotschaft erfolgt.

Gerade mehrsprachige und sprachlernende Kinder und Jugendliche brauchen reelle Kontakte und echte Sprachvorbilder. Wir sind nicht nur als Lehrpersonen und Dozierende, sondern auch in der Rolle als Mutter/Vater und Nachbarin/Nachbar gefragt, um Momente des Weiterlernens anzubieten. Warum nicht die Solidarität beim nächsten Gang zum Quartier-Fussballplatz leben und ein mehrsprachiges Kind mitnehmen, oder ein Schulgspänli zum Frühlingsbummel in den Wald einladen, selbstverständlich unter Wahrung der nötigen Abstände. Oder den Stubentisch und die Aufgabenunterstützung bewusst mit zwei- oder mehrsprachigen Kindern teilen und so den Kindern eine Abwechslung bieten zum Lernen nur im eigenen Familienkreis. Denn vielleicht betreut der Vater des Kindes, dass sie mit zum Sportplatz nehmen, gerade als Narkosearzt im Spital eine Schwangere bei der Geburt, die Mutter des Kindes, mit dem sie den Wald erkunden, sichert den Verkauf der Nahrungsmittel oder die Eltern des zur Aufgabenunterstützung eingeladenen Kindes leisten als interkulturelle Übersetzungspersonen wichtige Aufgaben bei der EDA. Beim nächsten Apéro werden Sie es erfahren. Eines aber können Sie bei Ihren Hilfestellungen mit Kindern, die eine sogenannte Migrationssprache sprechen, sofort feststellen: Mehrsprachigkeit gleichwelcher Art stellt eine Ressource dar!

Die Zeit der Pandemie bietet während des Stillstandes die Möglichkeit, darüber nachzudenken: Welchen Beitrag leistet die Schule in der migrationsgesellschaftlichen, mehrsprachigen Realität? Wie fit ist unser Bildungssystem? Distance Learning rückt näher und auch die Gesellschaft muss aus Solidarität zusammenrücken.

Ich bin überzeugt, dass Gesten eines gelebten Miteinanders nachhaltiger und wirkungsvoller sind als die besten Apps. Wir sind alle Teil der Migrationsgesellschaft, sie ist die Wirklichkeit, in der wir leben.

Ein merci beaucoup den (DaZ-) Lehrpersonen, die kreative Lösungen für Herausforderungen finden, faleminderit dem technischen Support und obrigada meinem inspirierenden und geduldigen Umfeld.

Über die Autorin

Irène Zingg

Irène Zingg ist Leiterin des Entwicklungsprojekts Noch mehr Sprache(n) für alle am Institut für Forschung, Entwicklung und Evaluation der PHBern und Dozentin am Institut für Weiterbildung und Medienbildung der PHBern