Heilpädagogik auf Sekundarstufe II: Brücken bauen für Jugendliche

An Berufsschulen, Fachmittelschulen oder Gymnasien fehlen oft (noch) Lernberatungsstellen und Unterstützung für Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen. Tanja Steiner, Heilpädagogin und Lernberaterin an einer Berufsschule in Bern, plädiert für niederschwellige Angebote, um die Lücke zwischen Volksschule und Sekundarstufe II zu schliessen.
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Bild: zvg

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Die Situation vieler Jugendlicher, die bereits in der Grundschule integrative schulische Massnahmen erhalten haben, verändert sich, sobald sie in die Sekundarstufe II – die Berufsschule, Fachmittelschule oder ans Gymnasium – wechseln. Die integrativen Massnahmen werden nicht zwingend weitergeführt. Damit beschäftigt sich das Forschungsprojekt LABIRINT, das Teil der Langzeitstudie BELIMA ist. Es fokussiert den Übergang von der Sekundarstufe I zu nachobligatorischen Ausbildungswegen von Lernenden mit und ohne besondere Bedürfnisse und ist eine Zusammenarbeit der PHBern mit der Universität Bern. 

Bruch von Sek I zu Sek II

Während in der Primarschule und Sekundarstufe I dieselben Richtlinien gelten, stellt der Sprung von Sek I zu Sek II – also von der allgemeinen Schulzeit zur Berufsausbildung – einen grossen Bruch dar. Integrative Massnahmen werden nicht automatisch fortgesetzt – ein Grund ist der Datenschutz. Der Nachteilsausgleich muss zum Beispiel neu abgeklärt und beantragt werden. Es liegt in den Händen der Jugendlichen, sich darum zu kümmern. 

Tanja Steiner ist an der Wirtschafts- und Kaderschule KV Bern (WKS KV Bern) tätig. Als eine der wenigen heilpädagogischen Fachpersonen auf Sekundarstufe II betreut sie Jugendliche, die Lernschwierigkeiten haben. "Als ich vor fünf Jahren als Lernberaterin an einer Berufsschule begann, war ich eine Ausnahme. Nach wie vor ist heilpädagogische Unterstützung an Sek-II-Schulen nicht institutionalisiert." Glücklicherweise wachse jedoch an den Schulen und beim Kanton das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Unterstützungsangeboten, stellt Tanja Steiner fest.

Niederschwellige Angebote schaffen

Um die Kontinuität der Unterstützung zu gewährleisten, braucht es laut der Heilpädagogin zum einen niederschwellige Beratungsangebote, damit die Jugendlichen eine einfache Anlaufstelle für ihre Bedürfnisse haben. An der Berufsschule, wo sie tätig ist, werden die Jugendlichen bereits am ersten Schultag darauf aufmerksam gemacht, dass es auch auf Sekundarstufe II einen Anspruch auf NAG es ein Online-Gesuch zum Ausfüllen gibt. Das hilft bereits, um die Hemmschwelle etwas zu senken, weiss Tanja Steiner.

Mehr Fachpersonal

Andererseits brauche es mehr spezialisiertes Fachpersonal an den Berufsschulen, um die Lehr- und Leitungspersonen zu entlasten. Zudem ist eine übergreifende und enge Zusammenarbeit zwischen Berufsschulen, Lehrbetrieb, den Überbetrieblichen Kursen (ÜK) und den heilpädagogischen Fachpersonen erforderlich. Das eine weitere Überlegung der Heilpädagogin.

Dass das Bewusstsein für Unterstützung auf Sek-II-Stufe wächst, ist auch an den regelmässigen kantonalen Netzwerktreffen der Berufsschulen sichtbar. Dort tauschen sich die Verantwortlichen für NAG aus, um Strategien für den Umgang mit der zunehmenden Heterogenität auf der Sek-II-Stufe zu entwickeln. Viele Lehrpersonen und Schulleitungen wissen wenig über die diagnostischen Möglichkeiten heilpädagogischer Fachpersonen und sind sich nicht bewusst, dass solche Fachkräfte existieren und entlastend wirken können.

Eine Voraussetzung sei dabei die kantonale Anerkennung von Spezialunterricht und heilpädagogischen Fachkräften auf Berufsschulebene und entsprechende Vergütungsmodelle. Bisher gelten heilpädagogische Angebote nicht als Teil der regulären Berufsausbildung. 

Langzeitstudie BELIMA und Teilprojekte LABIRINT I und II

Die Pädagogische Hochschule Bern verfolgt in der Langzeitstudie BELIMA (Berner Längsschnittstudie integrative schulische Massnahmen) seit über zehn Jahren die schulischen Wege von Lernenden, die in der obligatorischen Schule (Primar- und Sekundarstufe I) integrative Massnahmen erhalten haben.

Das Teilprojekt LABIRINT (Langfristige Bildungsverläufe von Regelschülerinnen und -schülern mit integrativen schulischen Massnahmen im Kanton Bern) fokussiert den Übergang von der Sekundarstufe I zu nachobligatorischen Ausbildungswegen und ist ein Kooperationsprojekt mit der Universität Bern (Prof. Dr. Rolf Becker). LABIRINT wird vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und der PHBern finanziert.
 

LABIRINT II

Im August 2025 startete LABIRINT II. Die Forschenden verfolgen dieselbe Gruppe weiter. Im Vordergrund steht dieses Mal die Zusammenarbeit mit Akteurinnen und Akteuren aus Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben. Daraus sollen konkrete Unterstützungsmöglichkeiten abgeleitet werden.

Zu LABIRINT II

Erste Schritte

Tanja Steiner erwähnt die Projektgruppe Heterogenität an Berufsfachschulen. Sie hat – ähnlich wie die Netzwerktreffen – Massnahmen entworfen, wie mit der zunehmenden Heterogenität an Berufsfachschulen umgegangen werden kann.  

Die Gruppe arbeitet an einem Modell, das den zusätzlichen Aufwand für Heterogenität finanziell ausgleicht. "Dieser politische Prozess braucht Zeit", gibt Tanja Steiner zu bedenken. Aber: "Wer Integration will, braucht anerkannte Fachspezialistinnen und -spezialisten", fasst die Heilpädagogin zusammen.

Wichtigste Handlungsfelder

  • systematischer Einsatz heilpädagogischer Fachpersonen auf Sekundarstufe II, um individuelle Unterstützungsbedarfe zu identifizieren und zu begleiten
  • enge Kooperation zwischen den Schulstufen, drei Lernorten, Lehrpersonen, Fachspezialistinnen und -spezialisten sowie Berufsbildungsverantwortlichen, um ein gemeinsames Verständnis und abgestimmte Massnahmen zu gewährleisten
  • Alle Involvierten müssen für die Chancen und Risiken integrativer Massnahmen sensibilisiert werden.

Die PHBern hat vielfältige Angebote in Aus- und Weiterbildungen und Forschungsprojekte zum Thema Integration. 

Bildung schafft Chancen – dafür setzen sich die Forschenden der PHBern ein.

Das Institut für Forschung, Entwicklung und Evaluation der PHBern fördert mit exzellenter Forschung, gezielter Nachwuchsförderung und einem offenen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen hochwertige Bildung für alle.