Urteilskompetenzen sind ein zentraler Bestandteil der Förderung politischer Kompetenzen im Unterricht. Politische Entscheidungsprozesse sind jedoch häufig sehr komplex. Um sich dennoch ein Urteil zu bilden – etwa in Abstimmungen oder politischen Diskussionen – greifen viele Menschen auf sogenannte Shortcuts oder Heuristiken zurück. Diese mentalen Abkürzungen helfen dabei, auch mit wenig Information oder Zeit zu einer Entscheidung zu kommen.
Heuristiken können dabei durchaus zu plausiblen und kompetenten Urteilen führen. Gleichzeitig gilt: Wenn diese Abkürzungen auf falschen Annahmen oder Fehlinformationen beruhen, kann es zu systematischen Verzerrungen kommen. Die Urteile wirken dann zwar intuitiv überzeugend, sind aber unter Umständen sachlich unzutreffend oder von Vorurteilen geprägt.
Deshalb ist es entscheidend, dass Lehrpersonen diese Prozesse im Unterricht thematisieren. Es geht darum, kritische Reflexion über eigene Urteile anzuregen und zu zeigen, wie Informationen – oder deren Verzerrung – unsere politischen Einschätzungen prägen können. In Anbetracht der begrenzten Zeit im Unterricht ist dies eine herausfordernde Aufgabe.
Die folgende Checkliste kann Lehrpersonen dabei helfen, mit diesen Themengebieten im Unterricht umzugehen.
1. Kenne ich politische Heuristiken?
Heuristiken sind mentale Abkürzungen, die helfen, mit komplexen politischen Themen umzugehen. Sie ermöglichen intuitive, oft plausible Urteile – sind aber anfällig für Verzerrungen, wenn sie auf falschen Annahmen beruhen.
- Beispiele für politische Heuristiken:
Deservingness-Heuristik: Wie bewerte ich, ob eine Gruppe Sozialleistungen "verdient"? Diese Einschätzung basiert häufig auf Kriterien wie Eigenverantwortung, Bedürftigkeit oder Beitrag zur Gesellschaft.
Kritische Rückfrage: Basieren meine Einschätzungen auf Fakten – oder auf Stereotypen, Medienbildern oder Annahmen, die ich hinterfragen sollte (z. B. über Betrugsquoten oder vermeintlich zu hohe Leistungen)?
Beziehungsheuristik: Wir neigen dazu, bei Abstimmungen den Empfehlungen nahestehender Personen zu folgen.
Kritische Rückfrage: Passen die Überzeugungen von Eltern oder Freundinnen und Freunden wirklich zu meinen eigenen Wertvorstellungen?
Partei-Heuristik: Viele Menschen orientieren sich an Parteipositionen, ohne sich im Detail mit dem Inhalt auseinanderzusetzen.
Kritische Rückfrage: Stimme ich einer Parteilinie zu, weil ich sie wirklich teile – oder weil ich mich der Partei zugehörig fühle, obwohl ich eigentlich anderer Meinung bin?
Expertise-Heuristik: Wir vertrauen oft der Meinung von Fachpersonen.
Kritische Rückfrage: Worauf stützt sich die Expertise der Person und stimme ich wirklich mit der Meinung überein?
- Heuristiken mit hohem Verzerrungspotenzial
Sympathie-/Affektheuristik: Kandidierende werden unterstützt, weil sie sympathisch oder nahbar wirken – unabhängig von Inhalten.
Kritische Rückfrage: Warum finde ich Kandidatin oder Kandidat XY überzeugend – wegen ihrer politischen Positionen oder wegen ihrer Ausstrahlung?
Repräsentativitätsheuristik: Einzelfälle werden als typisch für ganze Gruppen genommen – z. B. "Ich kenne eine Person, die… also sind die alle so!"
Kritische Rückfrage: Stützt sich mein Urteil auf viele Informationen – oder leite ich aus einem Beispiel voreilig auf eine ganze Gruppe?
2. Habe ich bereits eine Unterrichtseinheit zu Fehlinformationen durchgeführt?
Es ist wichtig, bestehende Fehlinformationen zu identifizieren und zu adressieren. Ein weiterer zentraler Baustein ist zudem, Jugendliche auf Desinformationsstrategien vorzubereiten und ihre Kompetenzen zu stärken, falsche Informationen als solche zu erkennen. Dies kann dazu führen, dass es erst gar nicht zur Fehlinformation kommt. Die Gefahren in Zeiten von Deepfakes, Künstliche Intelligenz und Social Media Echokammern sind gross.
Eine gelungene Unterrichtsidee bietet hier das "Bad News Game". Lernende überehmen darin die Rolle von Social-Media-Creatorinnen und -Creatoren und wenden selbst Desinformationsstrategien an. So erleben sie hautnah, wie gezielte Manipulation funktioniert: Zum Spiel
Auch darüber hinaus sollte der Umgang mit politischen Informationen bewusst gestaltet werden. So kann dieselbe Statistik in verschiedenen Zahlenformaten dargestellt werden – etwa als "3'000 von 300'000 Fällen" oder als "1 %". Diese scheinbar kleine Entscheidung kann jedoch unterschiedliche Interpretationen und emotionale Reaktionen hervorrufen. Lehrpersonen können diesen Effekt gezielt im Unterricht aufgreifen. Ein Beitrag der SRF-Tagesschau zur Kostenbremse-Initiative (19.05.2024) zeigt dies anschaulich: Zum Video (Dauer: 2:51 Minuten)
3. Bin ich mir der begrenzten Zeit in der politischen Bildung bewusst?
In der Fülle potenziell relevanter politischer Inhalte ist es entscheidend, den Fokus gezielt auf Themen und Kompetenzen zu legen, die nachweislich politische Urteilskraft stärken können.
- Dies bedeutet, evidenzbasiert auszuwählen, welche Informationen für mündiges politisches Handeln wirklich relevant sind (z. B. Teilnahme an Abstimmungen, Einordnung medialer Debatten, soziale Gerechtigkeitsfragen).
- Entsprechend sollte im Unterricht reflektiert werden: "Ist diese Information tatsächlich relevant für politisch kompetente Handlungen?" und "Welche Kompetenzen benötigen Jugendliche, um mit Informationsvielfalt und -verzerrung umgehen zu können?"
- Ziel ist nicht, "alles" zu vermitteln, sondern gezielt Inhalte zu vermitteln, die demokratische Teilhabe stärken und Desinformationsresistenz fördern.
4. Unterrichtsidee zur Deservingnessheuristik
Die Lernenden schlüpfen in die Rolle eines politischen Entscheidungsgremiums. Sie erhalten ein begrenztes Budget, das auf verschiedene Gruppen verteilt werden soll – zum Beispiel arbeitslose Personen, Familien mit Kindern, Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen mit kleinem Einkommen.
Gemeinsam müssen sie entscheiden: Wer soll wie viel Unterstützung erhalten – und warum?
Im Anschluss wird reflektiert: Welche Entscheidungskriterien wurden genutzt? Haben Informationen, Vorannahmen oder Fehlinformationen eine Rolle gespielt?