Was wurde untersucht?
In einer breit angelegten Studie mit über 1'500 Jugendlichen der Sekundarstufe aus der Deutschschweiz wurde untersucht, wie sie Sozialleistungen beurteilen und welche Kriterien sie dafür heranziehen – mit besonderem Fokus auf die Arbeitslosenversicherung.
Im Zentrum standen folgende Fragen:
- Welche sozialpolitischen Entscheidungen treffen Jugendliche? Nutzen sie – wie Erwachsene – sogenannte "Deservingness-Heuristiken", also mentale Abkürzungen, um zu beurteilen, wer staatliche Unterstützung verdient? Und wie beeinflusst das ihre Urteile?
- Inwiefern beeinflussen Wissen und Fehlinformationen diese Einschätzungen?
- Wie lassen sich die Ergebnisse in der politischen Bildung nutzen, um die Urteilskompetenz gezielt zu stärken, insbesondere in sozialpolitischen Fragen?
Deservingness – was bedeutet das?
Menschen greifen bei komplexen Fragen oft auf Heuristiken zurück − vereinfachte Entscheidungsregeln, die schnelle und intuitive Urteile ermöglichen. Eine zentrale Heuristik in der Sozialpolitik ist die "Deservingness-Heuristik": Sie hilft, einzuschätzen, wer als "würdig" gilt, staatliche Unterstützung zu erhalten. Dabei spielen Kriterien wie Eigenverantwortung, Notlage, bisheriger und zukünftiger gesellschaftlicher Beitrag (Reziprozität), Dankbarkeit, Einstellung der Hilfsempfangenden, Sympathie und kulturelle Nähe eine Rolle.
Heuristiken sind nicht grundsätzlich problematisch. Sie helfen, trotz begrenzter Informationen und Zeit zu fundierten Urteilen zu gelangen. Gerade in politischen Kontexten, in denen nicht immer alle Fakten parat sind, sind sie ein wichtiger Bestandteil individueller Entscheidungsprozesse. Gleichzeitig bergen sie Risiken: Wenn sie auf verzerrten Wahrnehmungen oder falschen Informationen basieren, können sie politische Urteile in eine problematische Richtung lenken.
Die Studie untersuchte erstmals systematisch, ob Jugendliche die "Deservingness-Heuristik" ebenfalls in sozialpolitischen Entscheidungsprozessen nutzen – und ob deren Anwendung durch Wissen oder Fehlinformationen beeinflusst wird.
Was war das Ziel der Untersuchung?
Die Studie zielte darauf ab, die politische Urteilskompetenz Jugendlicher evidenzbasiert zu fördern. Angesichts der Vielzahl an möglichen politischen Themen und der begrenzten Zeit ist es entscheidend, im Unterricht Schwerpunkte zu setzen, die Kompetenzen effektiv fördern können. Die Studie liefert Hinweise darauf, wo Fehlinformationen sozialpolitische Urteile verzerren könnten und wie dem im Unterricht präventiv begegnet werden kann.
Zentrale Ergebnisse
- Jugendliche verfügen über differenzierte sozialpolitische Einstellungen. Sozialpolitische Themen können mit Jugendlichen in der Öffentlichkeit und an Schulen diskutiert werden. Die Jugend hat eine Stimme und wertvolle Meinungen zur (Sozial-)politik.
- Jugendliche nutzen die "Deservingness-Heuristik", setzen dabei jedoch eigene Akzente. Sie unterscheiden klar zwischen Zielgruppen und ihre Deservingness-Einschätzungen beeinflussen ihre politischen Entscheidungen, zum Beispiel zur Dauer von Leistungsbezügen.
- Beim Wissen über Arbeitslosigkeit und soziale Sicherung zeigt sich ein gemischtes Bild: In einigen Bereichen verfügen Jugendliche über fundiertes Wissen, in anderen sind sie systematisch fehlinformiert. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen: a) Uninformierten Jugendlichen, die falsch geraten haben; b) Fehlinformierten Jugendlichen, die falsche Antworten geben und davon überzeugt sind, richtig zu liegen.
- Besonders relevante Fehlinformationen: a) Der Anteil unrechtmässig bezogener Arbeitslosenentschädigungen wird deutlich überschätzt: Während die reale Quote laut SECO unter 1 % liegt, schätzen Jugendliche sie auf über 20 %. b) Weitere Fehlinformationen betreffen Anspruchsberechtigungen, Sanktionen und die Arbeitslosenquote.
- Ein besonderer Befund: Je überzeugter Jugendliche von ihren (falschen) Annahmen sind, desto grösser ist die Abweichung von den offiziellen Statistiken. Und: Je stärker Fehlinformationen geglaubt werden, desto grösser ist ihr Einfluss auf politische Urteile.
Wichtigste Folgerungen
- Sozialpolitische Themen sind für Jugendliche relevant und spannend und sollten verstärkt im Schulunterricht behandelt werden. Jugendliche haben differenzierte und wertvolle Meinungen, denen mehr Gehör geschenkt werden sollte.
- Fehlinformationen können die politische Urteilsbildung beeinflussen. Es braucht weitere Forschung, um Heuristiken zu untersuchen, die Jugendliche in anderen Bereichen wie Klimapolitik, Wahlen oder Abstimmungen anwenden und ob diese auf falschen Annahmen beruhen.
- Einstellungen verfestigen sich früh. Deshalb sind evidenzbasierte Strategien in der politischen Bildung bereits auf der Sekundarstufe zentral. Fehlinformationen sollten gezielt und zweistufig thematisiert werden: a) Spezifische Fehlinformationen sollten adressiert werden, zum Beispiel unrechtmässig bezogene Arbeitslosenentschädigungen; b) Allgemeine Strategien zur Erkennung von Desinformation sollten im Unterricht vermittelt werden.
- Schulen haben einen privilegierten Zugang zu Jugendlichen und tragen eine besondere Verantwortung, deren politische Urteilskompetenz gezielt zu fördern.