Fernunterricht als Chance für die inklusive Schule

29.04.2020: Nebst Schülerinnen und Schüler, welche aufgrund ihrer sozialen Herkunft potenziell Benachteiligungen erfahren, sind auch Lernende mit Beeinträchtigungen aufgrund von „Behinderungen“ von Bildungsungleichheiten betroffen. Berechtigterweise werden Stimmen laut, die aufgrund des Fernunterrichts eine massgebliche Verschlechterung der Chancen von ohnehin benachteiligten Schülerinnen und Schülern prophezeien. 

Umso mehr wünschen wir uns von Herzen einen besonders umsichtigen (Fern-)Unterricht, welcher es den betroffenen Schülerinnen und Schülern ermöglicht, ihr Potential beim Kompetenzerwerb auszuschöpfen, sich emotional gesund weiterzuentwickeln und (trotz allem) auch sozial in die Klassen- und Schulgemeinschaft eingebunden zu sein. Hierfür werden während des Fernunterrichts wo möglich bewährte Wege fortgesetzt; es werden in diesen Wochen aber auch neue, gewinnbringende Wege gepfadet. Sie werden auch im Präsenzunterricht fortgesetzt und weiterentwickelt, damit die Reduktion von Chancenungleichheit in näherer und weiterer Zukunft gelingen kann. Der Lockdown ruft in diesem Sinne mit einem Blick nach vorne zu einer Schule für alle, zur schulischen Inklusion auf. Die im Folgenden skizzierten Schritte erachten wir sowohl für den Fern- als auch für den Präsenzunterricht als besonders wichtig:

Intensive Kooperation im multiprofessionellen Team
Lehrpersonen, Schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen sowie weitere Fachpersonen des Unterrichtteams arbeiten Hand in Hand: Die Schülerinnen und Schüler profitieren von einer verbindlichen, konstruktiven Zusammenarbeit, von der kontinuierlichen Weiterentwicklung aller Förder- und Unterstützungsangebote sowie von Therapien als integrierter Bestandteil des gesamten unterrichtsbezogenen Lehr- und Lernsettings im Fern- und Präsenzunterricht. Fach- und Stufenteams bereichern und entlasten sich gegenseitig. Dadurch freiwerdende Ressourcen werden für individuelles Lerncoaching insbesondere für Lernende mit besonderem Bildungs- bzw. erhöhtem Unterstützungsbedarf genutzt.

Konstruktive Zusammenarbeit mit Eltern
Die Bedeutung der Kommunikation mit Eltern wird deutlicher denn je. Die Kooperation wird dann fruchtbar, wenn die Mitarbeit der Eltern wertgeschätzt wird, ihre Anliegen ernst genommen sowie Anregungen erwünscht sind und in den Unterricht einfliessen können.

Vertrauensvolle Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern
Im Fern- und Präsenzunterricht sind positive und verlässliche Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern, die Achtung und Beachtung ihrer Persönlichkeit, die Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Erfahrungshorizonte und individuellen Ressourcen gleichermassen bedeutsam für ihre Entwicklung. Sie können massgeblich zur Resilienz und Bewältigung herausfordernder Lebenssituationen beitragen. 

Gezielte Unterrichtsentwicklung Richtung inklusive Schule
Um das Lernen aller Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen, werden Zugangsbarrieren minimiert. Das gelingt, wenn die Heterogenität der Lernenden bei der Gestaltung eines flexiblen Unterrichts stets mitbedacht wird. 

  • Vielfältige Aufgaben, die verschiedene Lösungswege ermöglichen, Kreativität freisetzen, alle Sinne ansprechen sowie Bewegung integrieren, motivieren die Lernenden und ermöglichen ihnen wichtige Lernfortschritte.
  • Innere Differenzierung mit Aufgaben, die sich z.B. bezüglich Schwierigkeit unterscheiden, trägt der Vielfalt der Lernenden Rechnung.
  • Kooperatives Lernen und gemeinschaftsbildende Rituale stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. 
  • Anschauungs- und Handlungsmaterialien kommt insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf jetzt und in Zukunft ein äusserst grosser Stellenwert zu, weil sie sinnlich erfahr-, erkund- und erschliessbar sind.
  • Digitale Kompetenzen, wie z.B. das Arbeiten mit Apps und Lernplattformen, rücken zurzeit ins Zentrum. Sie sind im Sinne des lebenslangen Lernens auch zukünftig für alle relevant. 
  • Selbstorganisiertes Lernen der Schülerinnen und Schüler einschliesslich der Dokumentation und Reflexion eigener Lernprozesse bereitet auf das Lernen in den folgenden Lebensphasen vor. Allen wird es zugutekommen, wenn der Präsenzunterricht bei den im Rahmen des Fernunterrichts gesammelten Erfahrungen und erweiterten Kompetenzen anknüpft. 
  • Umsichtige Lernbegleitung durch das multiprofessionelle Unterrichtsteam ist jederzeit entscheidend, damit die individuellen und gemeinschaftlichen Lernprozesse gelingen.
  • Formative Beurteilung stärkt den Lernprozess, wenn sie zeitnah, konkret, förderorientiert und ermutigend erfolgt. Mitschülerinnen und Mitschüler orientieren in ihrem Verhalten am Vorbild der Lehrperson. Daher dienen wohlwollende Rückmeldungen der Lehrenden auch der sozialen Integration von Lernenden.

In Frühling 2020 blühen ungeahnte Potentiale und belebende Kreativität auf. Diese können wir auf dem Weg zu einer Schule für alle und im Bestreben nach Reduktion von Chancenungleichheit gewinnbringend einsetzen. Stets bringt uns folgende Frage weiter: Welchen Schritt begehen wir auf diesem Weg Richtung Inklusion als nächstes?

Wie die Schritte Richtung Schule für alle konkret aussehen können, beschreiben wir in einer der folgenden Kolumnen.
 

Über die Autorinnen

  • Daniela Heierle ist Dozentin am Institut für Heilpädagogik der PHBern.
  • Carla Jana Svaton ist Dozentin am Institut für Heilpädagogik der PHBern.
  • Caroline Sahli Lozano ist Leiterin des Schwerpunktprogramms Inklusive Bildung am Institut für Forschung, Entwicklung und Evaluation der PHBern und Dozentin am Institut für Heilpädagogik der PHBern.

Gemeinsam mit Studierenden setzen sich die drei Autorinnen während eines Semesters mit Erklärungen zur Entstehung von Bildungsungleichheiten und mit Lösungsansätzen zur Reduktion derselben auseinander.