Hintergrundinformationen und Relevanz
Anne Frank wurde am 12. Juni 1929 in Frankfurt a.M. geboren. Sie emigrierte 1934 zusammen mit ihrer Mutter und Schwester nach Amsterdam, wohin bereits 1933 – nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten – ihr Vater Otto Frank übersiedelt war. Als die Nazis 1940 die Niederlande besetzten, begann Otto Frank Vorbereitungen für ein Versteck zu treffen. Einen Monat bevor die Familie Frank sich zusammen mit der dreiköpfigen Familie van Pels und dem Zahnarzt Dr. Fritz Pfeffer im Hinterhaus an der Prinsengracht versteckte, wurde Anne 13 Jahre alt und bekam ein rot-weiss kariertes Tagebuch geschenkt, das sie mit sich ins Hinterhaus nahm. Anfänglich schrieb Anne nur für sich (Fassung a). Als sie aber am Radio den niederländischen Bildungsminister aus dessen Londoner Exil sagen hörte, die holländische Bevölkerung möge das Leiden des Kriegs dokumentieren, um diese Dokumentationen nach dem Krieg zu veröffentlichen, beschloss Anne, diesem Aufruf nachzukommen und fertigte eine weitere Version an (Fassung b). Am 4. August 1944 wurden die beiden Familien Frank und van Pels so wie Dr. Pfeffer von der Polizei aus dem Versteck im Hinterhaus geholt und ins Durchgangslager Westerbork verschleppt. Miep Gies und Bep Voskuijl, zwei der Helferinnen und Helfer der Familien Frank und van Pels, stellten Annes Schriften noch am Tag ihrer Verschleppung sicher.
Anne wurde nur 15 Jahre alt. Die Familie befand sich im letzten Transport von Westerbork nach Auschwitz am 4. September 1944. Die Alliierten standen zu diesem Zeitpunkt bereits an der Südgrenze der Niederlande. Anne wurde zusammen mit ihrer Schwester Margot von Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht, wo sie vermutlich im März 1945 an Typhus und Erschöpfung starb. Von ihrer Familie überlebte einzig ihr Vater Otto Frank den Zweiten Weltkrieg im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Nach Kriegsende kehrte er nach Amsterdam zurück. Miep Gies überreichte ihm Annes Tagebuch, das 1947 nach einer weiteren Redaktion und Überarbeitung durch Otto Frank erstmals erschien (Fassung c). Der Anne Frank Fonds Basel, Alleinerbe der Rechte am Tagebuch, gab das Tagebuch 1980 in einer von Mirjam Pressler editierten und überarbeiteten Form neu heraus.
Annes jugendliches Alter bei ihrem Tod und die Absicht, die sie mit ihren Niederschriften verfolgte, nämlich der Nachkriegszeit ein Zeugnis zu überreichen, verleihen dem Tagebuch eine dringliche Brisanz bis in die heutige Zeit hinein. Der Ausruf «Nie wieder!» fordert von jeder Generation aufs Neue die Auseinandersetzung mit den mechanisierten Gräueln der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung.
Anne Frank und ihr Tagebuch bieten sich für diese Auseinandersetzung im Unterricht exemplarisch an. Es lassen sich an der Person Anne Frank und ihrem Tagebuch zwei inhaltliche Bezugsrahmen festlegen und vertiefen: die zeitgeschichtliche Einbettung einerseits und die Lebenswelt eines jungen Mädchens andererseits. Denn Anne Frank steht zum einen symbolisch für das Grauen und die Opfer der Judenverfolgung, sie ist aber zum anderen auch ein Teenager mit einer persönlichen Geschichte. Daraus ergeben sich zwei Unterrichtsziele, die mit diesem IdeenSet verfolgt werden können:
1. Das zeitgeschichtliche Thema der Judenverfolgung kann mit Anne Frank exemplarisch vertieft werden. Berührt werden dabei auch Schlüsselprobleme unserer Zeit, wie der Umgang mit Minderheiten und fremden Religionen und Kulturen sowie Konflikte, Kriege, Migration und ziviler Ungehorsam. Diesbezüglich ist Anne Franks Tagebuch hochaktuell. Diesen Aktualitätsbezug herzustellen ist ein Ziel des vorliegenden IdeenSets.
2. Mit Jugendlichen von heute teilt Anne Frank das Erwachsenwerden und ihren kritischen Blick auf die Welt der Erwachsenen. Gleichzeitig findet dieses Erwachsenwerden in Lebensumständen statt, von denen sich niemand wünscht, sie je teilen zu müssen. Anne Frank schrieb ihr Tagebuch eingepfercht in einem Versteck vor den Nationalsozialisten, von denen sie schliesslich doch entdeckt und ermordet wurde. Die kurze Jugend Anne Franks vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Schreckens nachzuempfinden, ist demnach das andere Ziel dieses IdeenSets.
Vorstellungen und Vorkenntnisse
Es ist davon auszugehen, dass der Mehrheit der 14-17-Jährigen «Anne Frank» kein Begriff ist, der weitreichendes Wissen hervorrufen kann. Einigen in einer Schulklasse mag bekannt sein, wer Anne Frank war und dass sie ein Buch schrieb, mehr wohl aber eher nicht. Der Zweite Weltkrieg ist für eine Mehrheit der heutigen europäischen Jugendlichen ein Thema, das sie aus Schulbüchern, aber nicht mehr von Erzählungen ihrer Verwandten kennen. Die Kriegsgeneration ist bereits ins hohe Alter gekommen oder verstorben.
Das IdeenSet lässt sich in eine längere Unterrichtssequenz einbetten, entweder zum Judentum oder zum Zweiten Weltkrieg. Ausgehend davon, dass die Lernenden diese Themen bereits behandelt haben, wird weder auf den Zweiten Weltkrieg noch auf das Judentum direkt eingegangen. Das IdeenSet wird als Ergänzung hierzu verstanden. Zu beiden Themenbereichen finden sich z.B. auf der Webseite der Bundeszentrale für Politische Bildung umfassende Hintergrundinformationen. Zum Judentum bietet die PHBern eine Medien- und Materialkiste an.
Das Klären der individuellen Interessen, Einstellungen sowie Erfahrungen (z.B. in Bezug auf leidvolle Migration) der Lernenden muss der jeweiligen Lehrperson überlassen werden.
Lerngegenstand, thematische Schwerpunkte und Lehrplanbezug
Flucht und Migration
Otto Frank migrierte unter der zunehmenden Bedrohung des Nationalsozialismus nach Amsterdam. Flucht und Migration sind heute vieldiskutierte gesellschaftliche Themen, die viele Jugendliche in der Schweiz direkt betreffen. Unter diesem Gesichtspunkt soll die Geschichte der Anne Frank aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden.
Erwachsen werden
Im Zentrum steht Anne Frank. Ihr Erwachsenwerden unter beengenden Umständen soll Ausgangspunkt sein. Einer der Schwerpunkte geht deshalb der Frage nach, was Anne Frank als Jugendliche im Versteck bewegt hat und wie sie sich möglicherweise gefühlt hat.
Helferinnen und Helfer
Die Familie Frank hatte in ihrem Versteck Helferinnen und Helfer. Ohne den Mut und die Risikobereitschaft dieser Personen wäre das Untertauchen nicht möglich gewesen. "Was ist richtiges Handeln?" und "Wann ist Ungehorsam gegenüber dem Staat notwendig oder gerechtfertigt?" sind Fragen, die sich mit Jugendlichen an einem Beispiel aus der Schweiz besprechen lassen.
Holocaust-Überlebende
Die letzten Überlebenden des Holocaust sind in einem hohen Alter. Zeitzeugeninterviews sind deshalb momentan ein Forschungsfeld, das starke Beachtung findet. Anhand solcher Interviews und Portraits soll den Jugendlichen das Schicksal der Anne Frank nach ihrer Zeit im Hinterhaus vermittelt werden und die Judenvernichtung neben Anne Frank noch andere Gesichter bekommen.
Grundsätzlich beinhaltet das IdeenSet Lernsituationen, die durch Personen und persönliche Lebensgeschichten/Schicksale fassbar gemacht werden sollen. Alle thematischen Schwerpunkte sind insofern voneinander unabhängig, als dass ihre Reihenfolge beliebig erstellt oder auch nicht alle Schwerpunkte behandelt werden müssen.
Lehrplanbezug
Kompetenzen: RZG.6.3.b, RZG.7.2b, ERG.3.2c, Überfachliche Kompetenzen, Lehrplan Gymnasium: Grundlagenfach Geschichte / Ergänzungsfach Religionslehre
Fächerübergreifende Kompetenzen (3. Zyklus)
Der fächerübergreifende Unterricht ist in Zusammenarbeit mit dem Deutschunterricht am naheliegendsten, in dem eine Auseinandersetzung mit Ausschnitten oder dem gesamten Tagebuch der Anne Frank durchgeführt werden kann.
Methodische Ausrichtung
Die Aufgaben basieren auf dem Modell kompetenzfördernder Aufgabensets nach Wilhelm et al. (2016) in: Kalcsics/Wilhelm(2017). Das Modell versteht den Aufbau von Kompetenzen als Prozess und nicht als blosse Aneinanderreihung von Lernaufgaben. Erarbeitet werden die Inhalte mit Hilfe von Arbeitsblättern, Bildern, Websites, eines Graphic Diary, Filmen, oft in Form von eigenen Tagebucheinträgen der Lernenden. Zur Person Anne Frank gibt es eine Fülle an Materialien und Publikationen. Für das IdeenSet wurden nach Möglichkeit neuere oder neuste Publikationen gewählt.
Unterrichtsorganisation
Gerechnet wird mit einem Zeitaufwand von 8 bis 10 Lektionen, je nach Arbeitstempo der Klasse. Es ist aber möglich, auch nur Teile des IdeenSets zu bearbeiten. Neben den Materialien des IdeenSets benötigen die Lernenden ein Heft, das ihnen als eigenes Tagebuch dient, dazu einen Zugang zum Internet, idealerweise mit einem eigenen Gerät.
Beurteilung
«Um Lerninhalte zu vertiefen und zu sichern, müssen Lernende die Ergebnisse ihres Lernprozesses festhalten. Dazu stellen sie gesammelte Informationen und Erkenntnisse zusammen. Dokumentationen machen Lernprozesse bewusst und sichtbar.» (Lehrplan 21: Natur, Mensch, Gesellschaft: Didaktische Hinweise: Dokumentation von Lernprozessen)
Für dieses IdeenSet zu Anne Frank wird als Dokumentationsmedium ein eigenes Tagebuch vorgeschlagen, in dem jede*r einzelne Lernende immer wieder festhält, illustriert und selbst Tagebucheinträge verfasst. Um den Bezug zum Tagebuch der Anne Frank immer wieder herzustellen, wird vorgeschlagen, die Tagebucheinträge jeweils mit der Anrede «Liebe Anne» zu beginnen und dabei die Perspektive der fiktiven «Kitty» aus Anne Franks Tagebuch einzunehmen.
Die Gestaltung des Tagebuchs kann durchaus variieren. Ob es mehr textgefüllt oder gar einem Scrapbook ähneln soll, ist mit der Klasse festzulegen. Zu welchen Aspekten und Themen Einträge erstellt werden sollen, wird der Lehrperson überlassen; dies kann durchaus öfter erfolgen, als auf den Arbeitsblättern vorgeschlagen wird.
Die abschliessende oder fortlaufende Beurteilung des Themenblocks erfolgt gemäss Lehrplan. Dabei kann sich die Lehrperson auf das Tagebuch als Informationsquelle und Lernjournal abstützen. Allenfalls wäre es sinnvoll, mit der Klasse zu vereinbaren, wo das Augenmerk der Lehrperson bei der Beurteilung liegen soll.
Quellen
Literatur
Kalsics, Katharina/ Wilhelm, Markus (Hrsg.) (2017): Lernwelten Natur – Mensch – Gesellschaft. Weiterbildung, Grundlagen und Planungsbeispiele, Bern.
Websites
Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern: Lehrplan 17 für den gymnasialen Bildungsgang, (08.04.2019).
Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern: Lehrplan 21, (08.04.2019).
UNHCR Schweiz: Lehr-und Lernmaterial «Aufbrechen,Ankommen,Bleiben», (10.03.2019).
Abbildung
Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands) public domain