1. Einleitung

Der Bundesrat hat am 5. November 2014 eine unabhängige Expertenkommission (UEK) eingesetzt. Sie wurde beauftragt, die administrativen Versorgungen in der Schweiz bis 1981 zu untersuchen. Die UEK zeigt in ihrer Forschung die Perspektive von Opfern und Betroffenen auf und analysiert die staatlichen Interventionen und das behördliche Handeln. Darüber hinaus berücksichtigt die Kommission auch die Bezüge zu anderen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Unter administrativen Versorgungen verstehen die Forschenden Massnahmen, die zu einem Freiheitsentzug in einer Anstalt führten. Die Menschen wurden nicht interniert, weil sie eine Straftat begangen hatten, sondern weil ihr Handeln und ihr Lebensstil aus Sicht der Behörden nicht den damaligen gesellschaftlichen Normen entsprachen.

Die PHBern entwickelte in Zusammenarbeit mit der UEK ein Lehr- und Lernangebot, um Lernenden eine Auseinandersetzung mit dem Thema der administrativen Versorgungen zu ermöglichen. Die Vermittlung der Geschichte der administrativen Versorgungen soll einen Beitrag zur nachhaltigen Rehabilitierung der betroffenen Personen leisten. Die PHBern produzierte mehrere Unterrichtseinheiten zum Thema «Ausgegrenzt und weggesperrt». Diese dienen als Lehrmittel für den Zyklus 2 und 3 sowie die Sekundarstufe II. Sie bauen auf Forschungsergebnissen der UEK auf und wurden in Zusammenarbeit mit betroffenen Personen entwickelt. Das Lernangebot macht die Lernenden mit den verschiedenen Perspektiven vertraut und zeigt auf, wie sich Werte in der Gesellschaft verändern und Recht zu Unrecht wurde.

2. Sachanalyse

Das am 1. April 2017 in Kraft getretene Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (SR 211.223.13)1 anerkennt das Unrecht, das in dieser Zeit an betroffenen Menschen begangen wurde. Es sieht namentlich auch vor, dass die von Verwaltungsbehörden ohne gerichtliches Verfahren angeordneten Einweisungen in Anstalten wissenschaftlich aufgearbeitet werden.

Die Forschungsarbeiten setzen sich mit dem Schicksal von Menschen auseinander, die vor 1981 von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen (FSZM) oder Fremdplatzierungen betroffen waren. Zu den Betroffenen zählen neben administrativ versorgten Personen auch Verding-, Kost-, Pflege- und Heimkinder, Fahrende oder Menschen, die von Zwangssterilisationen und -kastrationen oder von Adoptionen unter Zwang betroffen sind.

Ein initialer Teil der Aufarbeitung dieses schwierigen Kapitels der Schweizer Geschichte wurde von der UEK Administrative Versorgungen im Auftrag des Bundesrates übernommen. Gegen Ende des Jahres 2018 hat die UEK ihre Forschungstätigkeit abgeschlossen und wird im Verlauf des Jahres 2019 die Forschungsergebnisse in verschiedenen Publikationen, Veranstaltungen sowie einer Wanderausstellung veröffentlichen. Das IdeenSet der PHBern basiert auf ersten Ergebnis- sen aus der Arbeit der UEK.

3. Bildungsrelevanz

«Das Thema muss in die Schulbücher» – mit diesem zentralen Anliegen von Betroffenen wurden die Forschenden der UEK während ihrer Arbeit immer wieder konfrontiert.
Die Auseinandersetzung mit der Thematik der administrativen Versorgungen in der Schweiz ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit einem abgeschlossenen Kapitel der Schweizer Geschichte. Vielmehr geht es darum, dass Lernende sich Fragen dazu stellen, wie wir in
unserer Gesellschaft miteinander umgehen, wie und warum gewisse Menschen ausgegrenzt und weggesperrt werden und unter welchen Umständen dies geschieht. Wichtig dabei ist das Kennenlernen von Strukturen, Rahmenbedingungen und Prozessen im politischen System, beteilig- ten Akteuren und v.a. auch der Perspektive von betroffenen Personen.
Im Lehr- und Lernangebot geht es wesentlich auch darum, die systematisch strukturelle Einbettung der administrativen Versorgung nachvollziehen zu können und zentrale gesellschaftspolitische Fragen im Zusammenhang mit Freiheit, Gleichheit, Autonomie, aber auch Stigmatisierung und Diskriminierung zu identifizieren. Entlang von diesen Handlungs- und Entscheidungsalternativen sollen Reflexionen angestossen werden – auch, um individuelle politische Handlungsmöglichkeiten zu erfassen.

Was können wir unter «Administrative Versorgung» verstehen?
Eine administrative Versorgung bezeichnet bis 1981 verschiedene Massnahmen, die einen Freiheitsentzug in einer geschlossenen Anstalt bedingen. Eine Verwaltungsbehörde spricht diese ohne gerichtliches Verfahren aus. Die Versorgungen stützen sich auf unterschiedliche kantonale Gesetze und das Zivilgesetzbuch. Die Menschen werden nicht interniert, weil sie eine Straftat begangen haben, sondern weil ihr Handeln und ihr Lebensstil aus Sicht der Behörden den ge- sellschaftlichen Normen widersprechen und sie stigmatisiert sind. Erst 1981 revidiert und vereinheitlicht der Bund die Rechtsgrundlagen, auf die sich die Einweisungen stützen. Die Schweiz hat 1974 die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert und muss deshalb auf Druck internationaler Institutionen die Anstaltseinweisungen grundrechtskonform umgestalten.

Warum und wozu?
Politik und Behörden legitimieren die administrative Versorgung damit, dass die Gesellschaft vor Menschen geschützt werden müsse, deren Verhalten als anstössig gilt. Versorgt und damit von der Gesellschaft ausgegrenzt werden hauptsächlich Personen aus sozial und ökonomisch benachteiligten Schichten. Sie werden mit despektierlichen Begriffen wie «arbeitsscheu», «liederlich», «trunksüchtig», «verwahrlost» oder «asozial» beschrieben. Die Zuschreibungen widerspiegeln die traditionellen Geschlechterrollen: Männer werden interniert, wenn sie angeblich ihre familiären Unterstützungspflichten vernachlässigen. Frauen kommen wegen vermeintlicher Verstösse gegen rigide Moralvorstellungen in Anstalten. Beide Geschlechter sollen «gebessert» und den gesellschaftlichen Werten angeglichen werden.

Die Behörden haben bei ihren Entscheiden grossen Interpretations- und Handlungsspielraum. Für die Betroffenen ist der Vorgang undurchsichtig und die empfundene Unsicherheit wiegt schwer. Beschwerden gegen Internierungen werden von Anstaltsdirektionen oft zurückbehalten. Erreichen sie die zuständigen Adressaten, haben sie selten Erfolg.

4. Inhalt der Unterrichtseinheiten und Hinweise zum Einsatz

Zyklus 2, Lernform: projektorientierter Unterricht Ausgegrenzt und weggesperrt – Biografien im Kontext
Das Lernarrangement «Mach dir ein Bild – Ausgegrenzt und weggesperrt – Menschen in der Schweiz» für die Zielstufen 3. bis 6. Primarklasse (2. Zyklus gemäss Lehrplan 21) zielt darauf ab, Lernende das Phänomen der Administrativen Versorgung aufarbeiten zu lassen auf der Grundla- ge von Materialien, die von der UEK Administrative Versorgungen im Rahmen ihrer wissenschaft- licher Auseinandersetzung verwendet hat.Ziel des Lehr-Lernarrangements ist es, die Lernenden die komplexe Frage erarbeiten zu lassen, wie es bis 1981 in der Schweiz möglich war, Menschen wegzusperren, deren Handeln und Lebensstil nicht den damaligen gesellschaftlichen Normen entsprachen, und was diese Tatsache für die demokratischen Grundsätze des Landes und seine Rechtsstaatlichkeit letztlich bedeutet.

Zyklus 3, Lernform: erarbeitender Unterricht Ausgegrenzt und weggesperrt – zwei Lernarrangements
Für den Zyklus 3 wurden folgende Lernarrangements zum erarbeitenden Unterricht entwickelt:
1. «Vom Kinder-und Jugendheim bis zur administrativen Versorgung – eine Lebensgeschichte»; von Nadine Ritzer
2. «Ausgegrenzt und weggesperrt – das Beispiel von Ursula Biondi»; von Regula Argast

  1. Die Unterrichtseinheit «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen: Vom Waisenhaus bis zur administrativen Versorgung – eine Lebensgeschichte» thematisiert die an realen Begebenheiten orientierte aber fiktive Geschichte von Hans Müller. Ausgehend von dieser Geschichte sollen sich die Lernenden mit zwei behördlicher Massnahmen auseinandersetzen, die Hans Müllers Schicksal prägten: Mit der Fremdplatzierung im Waisenhaus, in dem Hans Müller seine Jugend verbrachte, und mit der administrativen Versorgung in Witzwil (BE). Die Herangehensweise ist exemplarisch: Die Lernenden gehen von der Lebensgeschichte von Hans Müller aus, ziehen Vergleiche zu anderen Betroffenen und abstrahieren die Vorgänge und Erlebnisse, sodass sie auch weitere Aspekte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und deren Folgen erarbeiten. In der Unterrichtseinheit werden auch die historische Aufarbeitung und die Frage um «Wiedergutmachung» thematisiert. Das Lernarrangement bietet Materialien und Lernaufgaben für ca. 8-12 Unterrichtsstunden, wobei auch eine kür- zere Beschäftigung mit der Thematik möglich ist.
     
  2. Im Zentrum der zweiten Unterrichtseinheit mit dem Titel «Ausgegrenzt und weggesperrt» steht die Geschichte von Ursula Biondi. Sie wurde im Jahr 1967 als 17-jährige werdende Mutter aufgrund der damals geltenden rigiden Ordnungs- und Sittlichkeitsvorstellungen in der Arbeitserziehungsanstalt Hindelbank für mehr als ein Jahr «administrativ versorgt». Die Unterrichtseinheit fokussiert auf die administrative Versorgung als einer Form der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Gleichzeitig werden weitere Formen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen wie die Zwangsadoption und die übermässige Arbeit bei schlechter Bezahlung thematisiert. Die Lernenden beschäftigen sich mit den zentralen Aspekten der administrativen Versorgung und den Erfahrungen der betroffenen Menschen, der historischen Aufarbeitung des Geschehenen sowie den sich daraus ergebenden Forderungen an ein «menschenwürdiges Gemeinwesen» (Fritz Reheis). Das Lernarrangement bietet Materialien und Lernaufgaben für ca. 12-16 Unterrichtsstunden, wobei auch eine kürzere Beschäftigung mit der Thematik möglich ist. Die ver- schiedenen Leistungsniveaus sowie Vorschläge für längere und kürzere Varianten sind ausgewiesen. Mit entsprechenden Anpassungen eignet sich die Unterrichtseinheit auch für den erarbeitenden Unterricht in der Sekundarstufe II.

Sekundarstufe II, Lernform: Selbständig organsiertes Lernen (SOL) Administrative Versorgungen – fürsorgerische Zwangsmassnahmen Fälle massiver Verletzungen von Menschenrechten in der Schweiz
Diese Unterrichtseinheit zur Vermittlung und Bearbeitung von Ergebnissen der UEK zur administ- rativen Versorgung in der Schweiz bis 1981 verfolgt einen wissenschaftspropädeutischen Ansatz, der im Rahmen des Selbstorganisierten Lernens (SOL) eingelöst werden kann. Die Unterrichtseinheit ist auf 6-10 Lektionen ausgelegt und zielt auch darauf ab, dass Lernende lernen können, wie ein SOL-Projekt angegangen und in Teilschritten umgesetzt werden kann. Es hält die Lernenden dazu an, eine Problemstellung zu entwickeln und ein Konzept zu erstellen, wie diese Problemstellung bearbeitet werden kann. Anhand von sechs Aufträgen setzen sich die Lernenden selbstständig mit der Thematik der administrativen Versorgungen und weiterer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen auseinander. Die Jugendlichen steuern dabei ihren Lernweg aufgrund von klaren Vereinbarungen selber. Die Unterrichtseinheit ermöglicht mehrere Perspektivenwechsel. So wird nicht nur die Sicht der betroffenen Personen dargestellt, sondern auch jene der Behörden und der Politik. Die Sicht der Betroffenen, der Vollzug und die Folgen der angeordneten Massnahmen auf ihr Leben sind zentrale Aspekte des Lehr- und Lernmaterials. Daneben stehen das Erarbeiten des relevanten Rechtsrahmens sowie der politischen Debatten und offiziellen Rehabilitierungsdiskussionen im Fokus des SOL-Auftrags.