Didaktischer Kommentar

Familien auf der Flucht

Relevanz und Übersicht

Über 100 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Täglich berichten Medien von Flüchtlingsströmen aus der Ukraine, Afghanistan, Irak, Syrien, Somalia oder dem Südsudan. Der politische Diskurs behandelt die Flüchtlingsthematik emotional: Rechts befürchtet man Überfremdung, Islamisierung und den Verlust der Schweizer Identität. Links wird an die historische Verantwortung der Schweiz, die humanitäre Tradition und Mitgefühl appelliert.

Dieses IdeenSet soll nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch interkulturelle Kompetenzen fördern. Gegliedert ist es entlang der Schwerpunkte "Flucht, Asyl und Integration“ – den drei grossen Hürden, die Flüchtende bewältigen müssen.

Mehr Informationen finden sich im Register "Lerngegenstand und thematische Schwerpunkte".

Vorstellungen und Vorkenntnisse

Aktuelle Literatur zu Vorstellungen, Vorkenntnissen und Wertehaltungen von Schweizer Jugendlichen bezüglich Flucht und Asyl fehlt. Es existieren jedoch Studien aus Deutschland, die zumindest teilweise auf die Schweiz übertragbar sind. Zu beachten ist, dass ein Teil der Studien während der "europäischen Flüchtlingskrise" von 2015 entstanden sind, als das Thema medial und politisch hochaktuell war. In Deutschland wurde die Asylthematik intensiver diskutiert als in der Schweiz.

Nagel (2017:93) beobachtet, dass die Nähe zu globalen Konflikten, die durch ankommende Asylsuchende repräsentiert werden, zu einer gesellschaftlichen Repolitisierung führt. Dies betrifft nicht nur Erwachsene, sondern auch Jugendliche, die durch Flüchtlingskinder in der Klasse direkt mit der Thematik konfrontiert sind. Daher sei "das Thema Flucht und Asyl (…) im Relevanzsystem des Schülers vertreten und [werde] teilweise mit viel Eifer diskutiert" (vgl. Nagel 2017: 93).

Die Studie "Wie ticken Jugendliche 2016" kommt zu einem ähnlichen Schluss: " Über alle demografischen Gruppen und Lebenswelten hinweg […] sind die Jugendlichen an dem Thema Flüchtlinge interessiert" (Calmbach et al. 2016: 436). […] Dabei ist das Thema aber durchaus polarisierend: Laut der Shell Jugendstudie 2019 (Albert et al. 2019: 77f.) finden 57% der Jugendlichen positiv, dass Deutschland viele Flüchtende aufgenommen hat, während 40% dies ablehnen. Eine Mehrheit der Jugendlichen (68%) empfindet, dass die Diskussion moralisch aufgeladen ist und es nicht möglich sei, sich kritisch zur Migration zu äussern, ohne als Rassist gebrandmarkt zu werden.

Die Themen Flucht, Asyl und Integration haben somit nicht nur gesellschaftspolitische Relevanz. Sie sind auch in der Lebenswelt der Jugendlichen durchaus präsent.

Lerngegenstand und thematische Schwerpunkte

Analog zu den drei grossen Hürden “Flucht, Asyl und Integration“, welche Flüchtende zu bewältigen haben, ist auch das IdeenSet aufgebaut.

Abbildung 1: Themenstruktur IdeenSet Flucht & Asyl. Bill, Georg.
Abbildung 1: Themenstruktur IdeenSet Flucht & Asyl. Bill, Georg.

    Ergänzend zu den kommentierten und didaktisch aufgearbeiteten Unterrichtsmaterialien bietet der Bereich “Hintergrundinformationen“ zu allen drei Themen zusätzliche Materialien. Diese dienen Lehrperson zur Erweiterung ihres Fachwissens oder können im Unterricht zur punktuellen Vertiefung von Teilthemen eingesetzt werden.

    Im Bereich Exkursionen finden sich Hinweise über aktuelle Ausstellungen sowie Veranstaltungen, welche Schulklassen Begegnungsräume mit Flüchtlingspersonen bieten. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe bietet neben Begegnungstagen auch thematische Vertiefungen (z. B. zum Thema Integration).

    Organisation und Beurteilung

    Methodische Ausrichtung

    Im Zentrum des vorliegenden IdeenSets steht das Lernen durch persönliches Erleben. In vielen der zusammengestellten Unterrichtseinheiten werden die Lernenden angeleitet, sich durch Gedankenexperimente und Rollenspiele in die Situation von Geflüchteten einzufühlen. Diese überfachliche Kompetenz wird im Lehrplan 21 wie folgt formuliert:

    „Die Kinder können sich in die Lage einer anderen Person versetzen und sich darüber klar werden, was diese Person denkt und fühlt“.

    Solche Perspektivenwechsel führen einerseits zu mehr Toleranz. Andererseits ermöglichen sie ein vertieftes Verständnis der Mechanismen, welche der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern zugrunde liegen.

    Durch den modularen Aufbau der Materialien wird der Lehrperson grosser Spielraum bei Aufbau und Umsetzung ihrer Unterrichtseinheit gelassen. Eine ausgezeichnete Umsetzungsmöglichkeit ist sicherlich, die Einheit im Sinne einer Projektsequenz zu gestalten, an deren Höhepunkt ein geleiteter Begegnungstag mit Flüchtlingspersonen steht.

    Organisation

    Für die Behandlung des gesamten Themenbereichs werden mindestens 12 Lektionen empfohlen. Alle drei Teilthemen (Flucht, Asyl & Integration) können auch gesondert behandelt werden.

    Bei einigen Aufgaben müssen die Lernenden auf dem Smartphone Videos schauen und Zeitungsartikel lesen. Dazu benötigen sie einen QR-Code-Reader und bringen am besten die eigenen Kopfhörer mit.

    Ansonsten wird nichts benötigt, was über die Standardeinrichtung eines modernen Klassenzimmers / Schulhauses hinausgeht.

    Einstieg

    Im Folgenden werden zwei mögliche Einstiege ins Thema skizziert. Ausführlich dokumentierte Materialien dazu finden Sie jeweils unter den angegebenen Links.

    • Warum migrieren Menschen? Mit dieser Frage im Hinterkopf machen sich die Lernenden auf, ihre eigene Familiengeschichte zu erkunden und erkennen dabei, dass praktisch jede Familie eine Migrationsgeschichte hat und dass die “Beweggründe“ sehr vielfältig sind. Dieser Einstieg eignet sich als Vorbereitung für die Sequenz und sollte von den Lernenden zuhause bearbeitet werden. Hier finden Sie Kopiervorlagen und einen Lehrerkommentar.
    • Was wäre wenn? Unter welchen Umständen würde ich flüchten? Was hiesse das für mich? Was müsste ich zurücklassen, was mitnehmen? Indem sich die Lernenden mit solchen Fragen auseinandersetzen, erhalten Sie eine konkrete Vorstellung von der Situation, in welcher sich Flüchtende in ihren Heimatländern befinden. Hier finden Sie die Unterrichtssequenz und die Materialien.

    Beurteilung

    Neben den “klassischen“ Beurteilungsmöglichkeiten in Form einer schriftlichen Prüfung bieten sich im vorliegenden Thema einige von den Lernenden kreierte Produkte zur Beurteilung an. Zum Beispiel:

    • Bewertung des Produkts vom Zukunftsplan “Überleben“. Beurteilungspunkte: Grad des Perspektivenwechsels/Eintauchtiefe // Kreativität der Umsetzung // Formale Qualität des Produkts
    • Als Nachbearbeitung eines Rollenspiels eine Reflektion schreiben.
    • Als Nachbearbeitung/Aufarbeitung des Begegnungstags: Portraits einer/s Geflüchteten erstellen und in Form einer Dokumentation/ eines Plakats/ eines Films umsetzen.

    Weitere Hinweise

    Lehrplanbezug

    Räume, Zeiten, Gesellschaften (3. Zyklus, Lehrplan 21)

    Die Lernenden …

    • können aktuelle Bevölkerungsbewegungen erkennen, diese räumlich und zeitlich strukturieren sowie Gründe für Migration erklären. (RZG 2.1b)
    • können diskutieren, welche Auswirkungen Migration auf die betroffenen Personen und die Aufnahmegesellschaft hat. (RZG 2.1c)
    • können soziale Ungleichheiten beschreiben, deren Ursachen erklären und Lebensbedingungen in verschiedenen Lebensräumen bewerten. (RZG 2.2c)
    • können Auswirkungen von sozialen Ungleichheiten untersuchen, Massnahmen zu deren Verringerung beurteilen (z.B. Millenniumsziele, Entwicklungszusammenarbeit) und entsprechende eigene Ideen entwickeln. (RZG 2.2d)
    • können anhand vorgegebener Materialien Geschichten von Krieg betroffener Menschen aus den letzten 50 Jahren erzählen und diese in einen geschichtlichen Zusammenhang stellen. (RZG 6.3c)  
    • können Kinder- und Menschenrechte erläutern. (RZG 8.2a)
    • können die Bedeutung von Kinder- und Menschenrechten für den eigenen Alltag und die Schulgemeinschaft erkennen und einschätzen. (RZG 8.2c)

    Lebenskunde – Ethik, Religionen, Gemeinschaft (alle Zyklen, Lehrplan 21)

    Die Lernenden …

    • können Medienbeiträge zu Aspekten von Religionen und Kulturen vergleichen, nach ihrem sachlichen Gehalt fragen sowie hinterfragen, wie Religionen und Kulturen in den Medien dargestellt werden. (ERG 3.1d)
    • können positive, ambivalente und negative Wirkungen von Religion einschätzen (z.B. soziale Netze, Integration, Meinungsbildung, Orientierung, Fundamentalismus). (ERG 3.2b)
    • können aktuelle Debatten auf religiöse bzw. weltanschauliche Standpunkte und diskriminierende Zuschreibungen untersuchen. (ERG 3.2d)
    • können Religionen und kulturelle Minderheiten mit ihren Anliegen nicht diskriminierend darstellen und verschiedene Auffassungen transparent wiedergeben. (ERG 4.4b)
    • können vereinnahmende Tendenzen - sowohl religiöser und weltanschaulicher Gruppen als auch des gesellschaftlichen Mainstreams - in religiösen und moralischen Fragen erkennen und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. (ERG 4.4c)
    • können verschiedene Auslegungen innerhalb der Religionen erkennen, der Vielfalt von Überzeugungen und religiösen Traditionen sowie den Bemühungen um Toleranz, Integration und Verständigung respektvoll begegnen. (ERG 4.4d)
    • kennen Faktoren, die Diskriminierung und Übergriffe begünstigen und reflektieren ihr eigenes Verhalten. (ERG 5.2c)
    • können Menschen in verschiedenen Lebenslagen und Lebenswelten wahrnehmen sowie über Erfahrungen, Bedürfnisse und Werte nachdenken (z.B. berufliche, ökonomische und familiäre Situation; Krankheit, Behinderung, Asyl, Migration). (ERG 5.5a)
    • können Anteil nehmen, wie Menschen mit schweren Erfahrungen und Benachteiligungen umgehen, indem sie ihre Perspektive einnehmen (z.B. Verlust, Behinderung, Krankheit, Flucht, traumatische Erfahrungen). (ERG 5.5b)
    • können anhand von Beispielen Familiengeschichten in einen grösseren Zusammenhang einordnen und reflektieren, wie dies die Familienmitglieder geprägt hat (z.B. ökonomische Entwicklung, sozialer Wandel, Flucht, Migration, Erziehung, Rolle des Geschlechts, Generationen, Traditionen). (ERG 5.5c)
    • können Vorurteile, Stereotypen, Feindbilder und Befürchtungen auf ihre Ursachen hin analysieren (z.B. Medien, politische Interessen, eigene Erfahrungen). (ERG 5.5d)
    • können den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Andersdenkenden und Minderheiten diskutieren (z.B. Integration, Minoritäten, Nonkonformisten). (ERG 5.5e)

    Geografie Grundlagenfach, (Sekundarstufe II, GYM1/GYM2, Lehrplan 2017)

    Die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten… 

    • setzen sich differenziert und offen mit anderen Gesellschaften und Kulturen auseinander.
    • überdenken eigene Wertvorstellungen und Verhaltensweisen.
    • verstehen globale Herausforderungen wie das Nord-Süd-Gefälle, die Migration oder den Klimawandel und erkennen damit verbundene globale, regionale und lokale Auswirkungen und Lösungsansätze.
    • hinterfragen Vorurteile und Stereotype.
    • reflektieren globale Verflechtungen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Umwelt.

    Geografie Ergänzungsfach, (Sekundarstufe II, GYM3/GYM4, Lehrplan 2017)

    Die Lernenden…

    • analysieren an Fallbeispielen soziale Strukturen und ihre Dynamik.
    • sind in der Lage, andere Kulturen durch einen Perspektivenwechsel besser zu verstehen.
    • können aktuelle Migrationsbewegungen im globalen Kontext einordnen und diskutieren Ansätze zur Integrationsförderung. Vorstellungen und Vorkenntnisse

    Exkursionen

    Das IdeenSet beinhaltet unterschiedliche Exkursionstipps, wobei auch Veranstaltungen von externen Organisationen an der eigenen Schule in dieser Sparte aufgeführt sind. Vor allem bei einer ausführlichen Behandlung des Themas empfiehlt es sich sehr, einen ausserschulischen Lernort mit einzuplanen. Angebote wie der Begegnungstag, organisiert von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, bieten den Lernenden die Möglichkeit, mit Direktbetroffenen in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen.

    Quellen

    Literaturverzeichnis

    Albert M., Quenzel G., Hurrelmann K., Kantar P. (2019), Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. 18. Shell Jugendstudie. Weinheim: Beltz.

    Calmbach, M. e. (1. Februar 2016). Wie ticken Jugendliche 2016? (S. Verlag, Hrsg.) Abgerufen am 19.12.2023 von Wie ticken Jugendliche 2016?: https://www.lmzbw.de/fileadmin/user_upload/Medienbildung_MCO/fileadmin/bibliothek/borchard_borgstedt_uvm_si nusstudie/wie_ticken_Jugendliche.pdf

    Nagel, F. (2017). Der Einfluss der Postdemokratie auf das Schlüsselproblem „Flucht und Asyl“. Empirische Befunde und didaktische Überlegungen. In M. Görtler, M. Lotz, M. Partetzke, S. Poma Poma, & M. Winckler, Kritische politische Bildung: Standpunkte und Perspektiven (S. 84-95). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.

    Abbildungsverzeichnis

    Titelbild: Syrian Refugees. A man carries a child as he waits in line to board a bus organized by the Austrian government in Hegyeshalom, Hungary. Freedom House. Online abrufbar, letzter Zugriff: 22.02.2018.

    Abbildung 1: Themenstruktur IdeenSet Flucht & Asyl. Bill, Georg.