Das Projekt ist den Kompetenzbereichen Wortschatz und Lesen gewidmet, die für die individuelle sprachliche Entwicklung im Schulalter eine zentrale Rolle spielen. Obwohl Wortschatz in der Didaktik als „Schaltstelle des schulischen Spracherwerbs“ bezeichnet wird (Steinhoff, 2009), gibt es bisher – im Unterschied zur gut erforschten Wortschatzentwicklung in der frühen Kindheit – aus dem deutschsprachigen Raum nur wenige Forschungsergebnisse zum fortgesetzten Erwerb in der Schulzeit. Hier verändern sich die Erwerbsbedingungen durch den Einfluss der Schriftsprache grundlegend, da ein immer grösserer Anteil der Wörter durch das Lesen erworben wird. Lesen wird als Schlüsselkompetenz für den Schulerfolg in allen Fächern betrachtet. Die Vermittlung der Lesefähigkeit gilt daher als eine der zentralen Aufgaben der Schule. Die internationale Leseforschung hat in Korrelationsstudien verschiedentlich den Zusammenhang von Lese- und Wortschatzkompetenzen aufgezeigt. Studien, die Wirkungsrichtungen (möglichst im Längsschnitt) untersuchen, sind bisher seltener. Sie weisen allerdings darauf hin, dass zwischen den beiden Kompetenzbereichen ein komplexes Gefüge besteht, dessen Wirkungsrichtung sich im Laufe der ersten Primarschuljahre zu verändern scheint.

Das Projekt greift zwei zentrale Fragestellungen auf: Erstens zielt es darauf ab, diesen Wirkungszusammenhang von Wortschatz- und Lesekompetenzen in der Unterstufe zu beleuchten. In einem quantitativen Teil mit 350 Schüler/innen sind umfangreiche Wortschatz- und Lesetests am Ende der 1., 2. und 3. Klasse geplant, die mit Hilfe von Pfadanalysen statistisch ausgewertet werden sollen. Die Daten sollen Aufschluss darüber geben, wann welche Wortschatzkompetenzen auf das Lesen wirken bzw. wann welche Lesekompetenzen den Wortschatz beeinflussen.

In einem zweiten, qualitativ-explorativ angelegten Teil werden mit einer Teilstichprobe Daten zur Wortbedeutungserschliessung durch Inferenzbildung erhoben. Durch den Einsatz von Kurztexten werden in Stimulated-recall-Interviews die (Prä-)Strategien untersucht, die die Schüler/innen anwenden, um unbekannten Wörtern erste Bedeutungen zuzuweisen. Diese (Prä-)Strategien sind für die Bedeutungserschliessung auf der Wort- wie auf der Textebene bedeutsam und stellen damit den Schnittpunkt zwischen den Kompetenzbereichen Wortschatz und Lesen dar.

Die Relevanz des Projektes für die psycholinguistische Spracherwerbsforschung ergibt sich aus der Erweiterung des Wortschatzerwerbsalters auf die ersten Schuljahre, in denen die Schriftsprache zunehmend an Bedeutung gewinnt und Strategien, die zuvor nur im mündlichen Gebrauch zur Anwendung kamen, auf den Umgang mit Schrift zu übertragen sind. Für die Leseforschung zentral ist, dass der im deutschsprachigen Raum vernachlässigte Wortschatz differenziert (nach Umfang, Qualität und Zugriffsgeschwindigkeit) erfasst und gezeigt wird, welche Teilkompetenz des Wortschatzes das Lesen wann positiv beeinflusst. Für die Didaktik und in Folge die Schulpraxis ist es von immenser Bedeutung, das Zusammenspiel der beiden Kompetenzbereiche zu entschlüsseln und die (Prä-)Strategien der Kinder bei der Bedeutungserschliessung unbekannter Einheiten aufzuzeigen, so dass die Grundlage für eine an die Entwicklung angepasste und systematische Wortschatzförderung, die auch das Lesen unterstützt, gelegt ist.

Das beantragte Projekt stellt eine Erweiterung des SNF-Vorgängerprojektes Wortschatz und Wortlesen. Aneignung im frühen Schulalter (Abschluss März 2016) dar.