"Die Akzeptanz des Kindergartens ist einmalig"

Als Eingang in die Volksschule kommt ihm zentrale Bedeutung zu: dem Kindergarten. Wie es heute um seinen Stellenwert steht, weshalb er nicht verschult werden darf und warum Forschung hilft, eine bessere Lehrperson zu werden, besprechen Fachleute aus der Praxis sowie aus Lehre, Weiterbildung und Forschung der PHBern.
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Ihr Herz schlägt für den Kindergarten (v. l. n. r): Evelyne Wannack, Philippe Schild, Marlis Nattiel, Kathleen Panitz und Marlies Käser

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Freitagnachmittage sind nicht dazu da, Neues anzureissen. Sie bieten sich an für eine Bilanz. So wie an diesem Freitagnachmittag Ende April, als sich fünf Personen an der PHBern treffen. Gemeinsamer Gegenstand: der Kindergarten.

Am Austausch nahmen teil:

  • Marlies Käser, Kindergartenlehrerin in Kehrsatz und Praxislehrerin
  • Marlis Nattiel, Kindergartenlehrerin im Steigerhubel, Bern; Dozentin und Verantwortliche für die Schuleingangsphase am Institut für Weiterbildung und Dienstleistungen der PHBern
  • Kathleen Panitz, Dozentin am Institut Primarstufe der PHBern im Bereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften
  • Philippe Schild, ehemals Kindergartenlehrer in Jegenstorf und Praxislehrer, heute IF-Lehrer auf der Unterstufe und Student der Erziehungswissenschaft
  • Evelyne Wannack, ausgebildete Primarlehrerin, Erziehungswissenschaftlerin, Forscherin und Leiterin des Zentrums für Forschungsförderung an der PHBern

Der Kindergarten hat einen verschlungenen Weg hinter sich seit den ersten Initiativen zur frühkindlichen Bildung Mitte des 19. Jahrhunderts: Initiiert oftmals von Idealistinnen, getragen von privaten Vereinen, wurde die Arbeit lange ohne geregelte Ausbildung und unter sehr heterogenen Anstellungsbedingungen ausgeübt. Einen grossen Wandel brachten die letzten zwei, drei Jahrzehnte. Hin zu einer Institution, die heute nicht mehr wegzudenken ist: "Die Akzeptanz des Kindergartens in der Bevölkerung ist einmalig", sagt die Kindergartenlehrerin Marlis Nattiel. "Schon bevor der Besuch im Jahr 2013 obligatorisch wurde, haben mehr als 99 Prozent aller Kinder das Angebot besucht." Damals wie heute starten die meisten Kinder gerne mit dem Kindergarten. "Natürlich abhängig vom Entwicklungsstand, von den Urteilen allfälliger älterer Geschwister und von den Erwartungen der Eltern", weiss Kindergartenlehrerin Marlies Käser.

"Das sind Hilferufe"

Ob die Kinder mit vier Jahren parat sind für den Kindergarten, ist eine Frage, die sich unter den Anwesenden gar nicht stellt. Denn: Von offizieller Seite existiert kein Kriterienkatalog, den es zu erfüllen gäbe. Entsprechend inklusiv und dem Entwicklungsstand der Kinder angepasst solle der Start in den Kindergarten sein. "Seitenlange Listen von Eintrittskriterien, wie ich sie manchmal von Kolleginnen und Kollegen sehe – zum Beispiel, dass Kinder bereits ihren Namen schreiben oder mit der Schere schneiden können sollen –, sind haarsträubend und reine Willkür", sagt Marlies Käser und erntet viel Zustimmung. So meint Dozentin Kathleen Panitz: "Solche Briefe, wie sie oft im Frühling an die Eltern gehen, sind eigentlich Hilferufe. Sie zeigen, dass sich die Institution von der natürlichen Entwicklung der Kinder entfernt. Statt der Entwicklungslogik und den Lerninteressen der Kinder zu folgen, orientieren sie sich an der Organisationslogik, also der Frage, wie die Organisation der Schule am reibungsfreisten funktioniert."

Der Zyklus 1 der Volksschule soll einen sanften Einstieg in die institutionalisierte Bildung ermöglichen. Nach dem Kindergarten finde allerdings oft ein Bruch im Lernsetting statt, hat Philippe Schild beobachtet. "Während einer Stellvertretung habe ich Formen des spielerischen Lernens aus dem Kindergarten auch in der Unterstufe integriert. Am Mittag haben sich die Kinder dann beschwert, dass sie gar nichts gelernt hätten. Die seltsame Vorstellung, dass Lernen anstrengend sein muss und am Tisch sitzend stattfindet, ist weiterhin sehr verbreitet."

Tatsächlich wurde auch der Kindergarten immer wieder von Tendenzen zur Verschulung heimgesucht – zum Beispiel nach dem mittelmässigen Abschneiden der Schweiz bei der PISA-Studie. Als Folge wurden vermehrt Trainingsprogramme für die Kindergärten erstellt. "Viele Kindergartenlehrpersonen haben immer wieder das Gefühl, sie müssten Arbeitsblätter einführen, damit die Kinder ins Lernen hineinkommen", berichtet Marlies Käser. Kathleen Panitz gibt zu bedenken, dass das Lösen von Arbeitsblättern eigentlich von einem verstaubten Schulverständnis zeuge: "Ein solches Lernen hat auch auf der Primarstufe nichts verloren. Es sollten vielfältige, vor allem bewegte und entdeckende Lernformen im Zentrum stehen. Auch an der Hochschule kommen wir davon weg, rein über die Kognition zu gehen, und berücksichtigen verschiedene Erkenntniswege."

"Bitte noch mehr Forschung!"

Das Freie Spiel ist für alle Beteiligten ein zentrales Element des Kindergartens. Heute wird diese Lernform auch wissenschaftlich erforscht und ihre Wirkung ist belegt. Dass zum Kindergarten überhaupt geforscht wird, ist vor allem der Tertiarisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zu verdanken. "Mit der Gründung  der Pädagogischen Hochschulen rückte auch der Kindergarten in den wissenschaftlichen Fokus und damit die Durchführung von entsprechenden Forschungs- und Entwicklungsarbeiten", weiss Evelyne Wannack. "Früher basierte die Aus- und Weiterbildung hauptsächlich auf mündlicher Tradierung." Die PHBern hat seit ihrer Gründung im Jahr 2005 28 Forschungs- und Entwicklungsprojekte mit Bezug zum Kindergarten bzw. zum Zyklus 1 durchgeführt, vielfach auch mit fachdidaktischen Fragestellungen – eine Perspektive, die früher kaum existierte.

Die Bedeutung der Forschung für ihre Arbeit schätzen alle Praxisleute am Tisch als sehr hoch ein. "Für mich dürfte es gerne auch noch mehr sein", sagt Marlies Käser. Sie versorgt auch die Studierenden, die bei ihr das Praktikum absolvieren, regelmässig mit Lektüre. Darunter sind Ausgaben der Buchreihe "Beiträge für die Praxis" der PHBern, die wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis zugänglich macht. Fünf der elf bisher erschienenen Bände thematisieren den Kindergarten. Ein Must-read für Kindergartenlehrpersonen ist die Fachzeitschrift "4bis8". Auch hier ist die Expertise der PHBern stark vertreten, wie die über 60 Beiträge von Forschenden und Dozierenden der PHBern – darunter ein Dutzend aus der Feder von Evelyne Wannack – in den vergangenen 17 Jahren zeigen.

Philippe Schild betont die Arbeitsteilung zwischen Forschung und Praxis: "Die Rolle der Forschung ist, Theorien zu entwickeln. Unsere Rolle als Lehrpersonen ist nicht, uns darüber aufzuregen, dass sie nicht zu 100 Prozent auf unseren Unterricht passen. Die Aufgabe der Lehrpersonen ist, die Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen."

Sprungbrett statt Sackgasse

Wie kann das Studium an der PHBern auf den vielfältigen Alltag im Kindergarten vorbereiten? "Nach der dreijährigen Ausbildung verfügen die Generalistinnen und Generalisten über eine solide Basisausstattung. Die Absolventinnen und Absolventen sollen das Vertrauen haben, gut unterrichten zu können", sagt Dozentin Kathleen Panitz. Und Marlis Nattiel von der Weiterbildung ergänzt: "Was man trotz so vielen Praktika wie nie zuvor erst im Beruf erhält, ist Erfahrung. Sie ist nötig, um Sicherheit und Vertrauen auch gegenüber den Eltern aufzubauen." Zur wichtigen Phase des Berufseinstiegs sowie zu weiteren Stationen der Berufslaufbahn bietet die PHBern spezifische Weiterbildungen an.

Dass in den letzten Jahren viel gegangen ist, zeigt sich nicht zuletzt an den Berufsperspektiven. Kindergartenlehrperson ist heute kein Sackgassenberuf mehr. Kam vor 20 Jahren nur der Wechsel in einen verwandten Beruf infrage – zum Beispiel Kleinkindererzieherin oder -erzieher –, steht einer Kindergartenlehrperson heute das gesamte Feld der Bildung offen: von einem Weiterstudium (zum Beispiel Schulische Heilpädagogik oder Erziehungswissenschaft) über die Arbeit als Schulleiterin oder Schulleiter bis zu einer Laufbahn als Dozentin oder Dozent an einer Pädagogischen Hochschule. An dieser positiven Entwicklung gilt es festzuhalten. Als gemeinsame Aufgabe der Hochschule und der Schule.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin "Education" 3.2022