"Empathie ist das Wichtigste"

Ein halbes Jahr nach ihrem Wiedereinstieg hat Caroline Heierle Freude an ihrer 1./2. Klasse und an sich selbst. Weil sie das Terrain in ihren beiden Schulzimmern gleich am Anfang klar abgesteckt hat, kann sie nun so kreativ unterrichten, wie sie es schon früher tat und mochte. Unterstützung beim Wiedereinstieg erhielt sie von der PHBern.
NEWS —

Von Weitem sieht sie aus wie eine naturverbundene Outdooraktivistin: sportlich, gesund gebräunt, mit kurzem Pferdeschwanz, Allwetterjacke, kompakt gepacktem Rucksack. Caroline Heierle winkt von jenseits der Baustelle, die den Zugang zum Schulhaus Balainen in Nidau aktuell erschwert. In dem über 100-jährigen Altbau gelangt man durch ein Türmchentreppenhaus ins oberste Stockwerk, wo Heierles Wirkstätte liegt. Gleich zwei grosse und helle Zimmer stehen ihrer Mehrstufenklasse zur Verfügung – "ideal, wenn ich Erst- und Zweitklässler zwischendurch mal separat beschäftige", bemerkt sie. Zusammen mit ihrer Vorgängerin hat sie die Räumlichkeiten von Altlasten früherer Lehrpersonen befreit und neu eingerichtet. Auch die Sitzordnung im Klassenzimmer hat sie umgestellt: Aus frei im Raum verteilten Pult-Blöcken wurde ein zur Tafel hin geöffnetes Hufeisen, in dessen Innenraum Bänkchen einen Kreis bilden.

Klare Formen und Strukturen sind Caroline Heierle wichtig, das merkt man auch im Gespräch. Ihren beruflichen Werdegang schildert die 49-Jährige so kurz und bündig wie offen: "Ich habe noch den Semer gemacht und mit 20 zu unterrichten begonnen, immer Teilzeitpensen. Ich hätte sehr gern eine eigene Klasse gehabt, bekam aber keine entsprechende Stelle. Damals", sie lacht, "gab es nicht zu wenige, sondern zu viele Lehrerinnen! Jedenfalls hatte ich nach vier Jahren genug und sah mich nach etwas anderem um. Et voilà: Bei Peugeot Suisse bekam ich eine Stelle als Direktionsassistentin. Das hatte ich – ohne jegliche KV- oder Sekretariatskenntnisse – wohl meiner Zweisprachigkeit und meiner Affinität zu Autos und entsprechender Kundschaft zu verdanken." Stopp! Die naturverbundene Outdooraktivistin ist auch Autofan? Caroline Heierle, aus der Nähe betrachtet eine Dame mit feinen Zügen und hintergründigem Charme, steckt voller Überraschungen.

Unterstützung beim Wiedereinstieg
Nach ihrem Peugeot-Job arbeitete die ausgestiegene Lehrerin als Stellenvermittlerin und gelangte in diesem Zusammenhang selbst zu einer Werbeagentur, wo sie auch ihren Mann – den Inhaber der Agentur – kennenlernte. Nach und nach kamen drei Kinder zur Welt, und Heierle übernahm neben der Kinderbetreuung und der Arbeit in der Werbeagentur sporadisch Stellvertretungen an der Filière Bilingue in Biel. Eine Kollegin hatte sie angefragt, "und da dachte ich, es kann ja nicht schaden, wenn ich wieder mal Schulluft schnuppere, mich schlau mache, was sich da inzwischen geändert hat, und einen Fuss drin habe."

An der Pädagogischen Hochschule Bern besuchte Caroline Heierle dazu einen Workshop für potenzielle Wiedereinsteigerinnen und Wiedereinsteiger. Ihr wurde klar: "Ich bin als Lehrerin nicht allein! Und ich bekomme, falls nötig, Hilfe." Angesichts des akuten Mangels an ausgebildeten Lehrpersonen unterstützt die PHBern mit Workshops, Einzelcoachings sowie Angeboten zu Fächern, Fachdidaktik und fachunabhängigen Themen alle, die den Wiedereinstieg wagen. In einem Video, das die PHBern auf ihre Website hochgeladen hat, empfiehlt Heierle die Rückkehr in den Lehrberuf denn auch anderen, die längere Zeit von der Schule weg waren.

Den Ausschlag dafür, nach 23 Jahren Berufsabstinenz und 11 Jahren Stellvertretungen eine Vollzeitstelle als Klassenlehrerin anzunehmen, gab bei ihr selbst schliesslich die Trennung von ihrem Mann. Endlich hat Caroline Heierle nun, was ihr als junger Lehrerin verwehrt blieb: eine eigene Klasse, die sie mit ihrem Unterricht prägen kann, und die Möglichkeit, jedes Kind kontinuierlich in seiner Entwicklung zu begleiten. In den Fächern Turnen, Textiles/Technisches Gestalten und NMG ergänzt eine Kollegin Heierles 90-Prozent-Pensum. Dieses zu stemmen, ist für die alleinerziehende Mutter von drei Kindern – 14, 12 und 10 Jahre alt – kein Zuckerschlecken. Aber Caroline Heierle hat gelernt, wie komplexe Aufgaben gut strukturiert zu bewältigen sind: "Ein Vorteil, den ich meiner langjährigen Tätigkeit in der Privatwirtschaft
zu verdanken habe."

Neue Herangehensweisen
Es ist ein "Sack voller Flöhe", der Caroline Heierle im Balainen-Schulhaus Nidau anvertraut ist. Und wie die Metapher suggeriert, ist der Sack offen und die 23 Flöhe sind in der freien Wildbahn unterwegs – in diesem Fall im Klassenzimmer. Immer wieder muss die Lehrerin mit ihrer weichen, frankofonen Stimme zur Konzentration mahnen. Sie tut dies gelassen, wird nie laut, spricht einzelne Kinder direkt an, klärt den Verdrängungskampf, der auf einem Bänkchen im Kreis stattfindet, mit Malerklebeband: "Bis hierher und nicht weiter, ist das klar?" Bald kehrt Ruhe ein, das Thema Weltall fesselt die Kinder. Begeistert geben sie zum Besten, was sie bereits wissen über das Sonnensystem, in dem sie leben. Nun ist der Planet Merkur dran. Dass er der kleinste Planet ist, einen sehr schweren Eisenkern hat und viele Krater aufweist, wird in einem Animationsfilmchen, in dem Merkur eine zeitgemässe Figur mit Charakter ist, vertieft. Dagegen ist der Merkvers, mit dem schon Generationen die Reihenfolge der Planeten verinnerlichten, fast derselbe geblieben: "Mein Vater Erklärt Mir Jeden Sonntag Unseren Nachthimmel."

Wo sieht Caroline Heierle die grössten schulischen Veränderungen seit ihrer früheren Tätigkeit als Lehrerin? "Das Formative ist für mich neu: Rückmeldungen zum Lernprozess, damit die Schülerinnen und Schüler wissen, wie sie ihr Lernen optimieren können. Heute müssen Schülerinnen und Schüler ihre Leistungen auch selbst beurteilen, sie müssen sich selbst reflektieren und für alles 'Strategien' entwickeln." Sie überlegt. "Es sind weniger die fachlichen Inhalte oder die neuen Lehrmittel, die anders sind, es ist vielmehr die Herangehensweise an die Kinder und das Lernen, die sich grundsätzlich gewandelt haben." Was in ihrem Selbstverständnis als Lehrerin gleichgeblieben ist, fasst sie in einem Wort zusammen: Empathie. "Empathie ist das Wichtigste", wiederholt sie immer wieder. Das bedeutet, jedes Kind bewusst wahrzunehmen, zu verstehen, entsprechende Resonanz zu geben und zu antizipieren, wie sich das Kind am nächsten und übernächsten Tag, aber auch beim Übertritt in die nächste Schulstufe verhalten wird. Was Heerscharen von Coaches seit einiger Zeit Führungskräften in der Wirtschaft beizubringen versuchen, ist für Caroline Heierle eine Selbstverständlichkeit.

Quelle: Education 2.2022; Text: Tina Uhlmann; Foto: Pia Neuenschwander