Beim Wort Inklusion denken viele Menschen nicht als erstes an das Schulfach Sport. In keinem anderen Fach ist die Heterogenität sichtbarer als im Sportunterricht. Doch ist nicht genau dies eine Chance, einen natürlichen Umgang damit zu finden?
"Sport hat ein grosses inklusives Potenzial", ist Michael Eckhart, Leiter des Instituts für Heilpädagogik der PHBern, überzeugt. Über die Bedeutung des Sports für Kinder und Jugendliche mit kognitiver Beeinträchtigung ist aber bisher noch wenig bekannt. Deshalb untersuchte dies das interdisziplinäre Forschungsteam unter der Leitung von Michael Eckhart (PHBern), Siegfried Nagel (Universität Bern) und Stefan Valkanover (Fachdidaktikzentrum Sport der PHBern).
Im vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekt SoPariS wurden rund 2000 Schülerinnen und Schüler aus über 100 Klassen und 13 Kantonen sowie knapp 400 Sportlerinnen und Sportler aus Vereins und Sportgruppen befragt. Über diese Erkenntnisse werden Publikationen verfasst, unter anderem vier Dissertationen.
Interview
Die PHBern konzentriert sich in diesem ausführlichen Interview auf konkrete Handlungsempfehlungen für Lehrpersonen. Vitus Furrer, Doktorand mit fachdidaktischem Fokus, gibt Auskunft. Max Blaise, ein vom Projekt unabhängiger Lehrer, ergänzt die Theorie mit Impulsen aus seinen Erfahrungen im inklusiven Schulsport.
Ist Sport generell eher ausschliessend?
Vitus Furrer: Nein. Aber wenn man in den Turnhallen Sport inszeniert, bei dem es schnell um die Leistung geht, dann kann Sport ausschliessend sein. In der Sportdidaktik setzt man seit Jahrzehnten auf einen mehrperspektivischen Unterricht, wo auch andere Aspekte, z. B. Soziales, Wagnis oder sich Ausdrücken können, berücksichtigt werden. Da sollte es für alle Schülerinnen und Schüler Platz haben, zu partizipieren.
Max Blaise: Im Sport sind Unterschiede gut sichtbar, da die Leistung der anderen gut beobachtbar ist und sich die Schülerinnen und Schüler somit vergleichen können. Hier ist es die Aufgabe der Lehrperson, dies in eine gute Richtung zu lenken. Dazu braucht es nicht nur Leistungsziele, sondern auch emotionale, kooperative und taktische. Im Unterricht mache ich deshalb oft kurze Unterbrechungen, die der Reflexion dienen: Was lief gut? Sind es immer die Gleichen, die den Ball haben? Wie können wir das Spiel so verändern, dass alle miteinbezogen werden? In dieser Runde kommen die meisten Lösungen von den Schülerinnen und Schülern. Dies sind Ideen wie: Es muss drei Pässe geben, bevor ein Tor zählt, jeder darf nur limitiert viele Punkte erzielen, oder die Teams werden neu gemischt.
Vitus Furrer, welches ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus dem dreijährigen Forschungsprojekt "SoPariS"?
Furrer: In dieser Zeit habe ich viele Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schüler interviewt. Mir wurde dabei bewusst, wie zentral die Rolle der Lehrperson ist, ob Inklusion gelingt oder nicht. Je nach deren Einstellung gegenüber inklusivem Unterricht, Weiterbildungen, Erfahrungen, Motivation zur Nachbereitung beziehungsweise zur Reflexion entfaltet sich das inklusive Potenzial unterschiedlich.
Max Blaise, welches ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus Ihren Erfahrungen?
Blaise: Bei Sonderfällen, beispielsweise einem Kind mit Cerebralparese oder einem autistischen Kind, wurde mir bewusst, dass hier die Planung sowie die Reflexion danach sehr wichtig sind. Da gilt es beispielsweise zu klären, welche Rolle innerhalb der Gruppe ist für das Kind am besten geeignet, sodass es aktiv mitwirken kann und gleichzeitig die seinem Potenzial und seinen Möglichkeiten entsprechend beste Förderung bekommt, ohne dass es eine stigmatisierende Rolle einnimmt wie Ballmensch oder Schiedsrichter.
Das inklusive Potenzial im Sport ist sehr gross: Im Sport können die Übungen einfach auf die Personen zugeschnitten werden. Es gibt unzählige Möglichkeiten zu differenzieren, sodass gezielt das Niveau und das Förderpotenzial des Kindes abgerufen werden können – sei das in Bezug auf das Material, die Übung oder die Ziele. Beispiel Badminton: Anstatt eines Federballs kann ein Luftballon verwendet werden oder ein Schläger mit kürzerem Griff.
Bringt die Inklusion im Sportunterricht einen grossen Mehraufwand?
Blaise: Oft ist weniger mehr. Es geht nicht darum, möglichst viele Ziele zu erreichen, sondern darum, ein paar nützliche herauszupicken. Ich habe beispielsweise in diesem Jahr ein fremdsprachiges Kind im Sportunterricht mit einer laufenden Autismus-Spektrum-Störung-Diagnose. Anfangs konnte das Kind sein Gegenüber kaum wahrnehmen und erkannte die Grenzen anderer nicht. Hier habe ich zusammen mit der Heilpädagogin Ziele definiert. Der Sportunterricht ist ein wunderbares Terrain, um soziale Aspekte zu trainieren. Die Nachbearbeitung sowie die konsequente Anwendung von individuellen Bezugsnormen hingegen sind generell aufwendig.
Bräuchte es mehr Unterstützung im Sportunterricht?
Furrer: Ja, die Lehrperson ist kein Einzelkämpfer. Es ist wichtig, dass das Fachwissen des ganzen Teams in den Unterricht einfliesst.
Blaise: Dies kann ich bestätigen. Eltern, Heilpädagoginnen, Psychomotorik-Therapeuten geben mir wertvolle Impulse. Doch dies ist nicht immer einfach: Einmal hat mich eine Heilpädagogin begleitet. Sie hatte grosses Fachwissen über die Diagnose, aber mit fachdidaktischen Aspekten des Sportunterrichts war sie weniger vertraut. Somit war es für uns beide nicht einfach ad hoc eine funktionierende Stunde zu gestalten. Hier hätten wir uns im Vorfeld viele Gedanken machen sowie den Unterricht nachbereiten müssen. Doch dazu fehlte uns einfach die Zeit. Zudem wird der Pool für die IF-Stunden oft nur für die Leistungsfächer (bspw. Mathematik oder Deutsch) eingesetzt. Und nur in Einzelfällen, wo z.B. Verhaltensschwierigkeiten Thema sind, ist eine zusätzliche Fachperson anwesend, die die Triggerpunkte kennt.
Furrer: Hier trifft Theorie auf Realität. Die Theorie sagt, dass die Zusammenarbeit in Fachteams sich positiv auf den Unterricht auswirkt, da die verschiedenen Wissensbereiche in den Unterricht integriert werden können. In der Praxis hat man leider oft nicht die Zeit dazu, alles vorzubesprechen und zu reflektieren. Das Potenzial ist hier auf jeden Fall gross. Im Rahmen des Projekts habe ich verschiedene Schulen besucht, wo Heilpädagoginnen oder Heilpädagogen auch im Sportunterricht tätig waren. Die Lehrpersonen haben dies sehr geschätzt. Bezüglich Absprachen etc. sahen sie aber auch noch Potenzial.
Planst du den individualisierten Sportunterricht immer im Voraus?
Blaise: Ja. Aber manchmal funktioniert dies dann nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Oft muss ich improvisieren, umdenken und mir neue Wege aussuchen. Spontane, gute Einfälle behalte ich bei und wenn es nicht gut lief, reflektiere ich dies, um es nächstes Mal besser zu machen. Diese Nachbereitung hilft mir, meinen Unterricht immer weiterzuentwickeln.
Lohnt sich der Aufwand?
Blaise: Ich erfahre eine grosse Dankbarkeit. Zudem sehe ich fortlaufend die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, die ich aktiv mitgetragen habe. Dies ist für mich das allerschönste Kompliment.
Welche Tipps können Sie Sportlehrpersonen mit auf den Weg geben?
Blaise: Jeder gute Unterricht steht und fällt mit den Planungen und Vorüberlegungen. Und dann wird man natürlich mit der Realität konfrontiert und muss Bilanz ziehen. Dies bedeutet, dass man den Unterricht am Ende kurz reflektiert: Was ist heute nicht gut gelaufen? Was könnten die Gründe sein? Was könnte ich nächstes Mal verändern? Und wenn man an seine Grenzen kommt, sollte man unbedingt den fachlichen Austausch im Team suchen.
Furrer: Offen, flexibel, spontan und kreativ zu sein sowie die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen. Zudem ist es wichtig, dass das Potenzial der Vielfalt gesehen wird und nicht die Herausforderung, die dies mit sich bringt. Eine Umkehrung der Sichtweise ins Positive.
Was sagen Sie zu den Handlungsempfehlungen der SoPariS-Forschung?
Blaise: Ich kann den Handlungsempfehlungen zu hundert Prozent zustimmen. Ich finde es zudem wichtig, dass jede Lehrperson die Praxis entdeckt, die für sie am besten passt und mit der sie mit den Kindern auf einer guten Beziehungsebene tolle Momente erleben kann.
Furrer: Es gibt kein Rezept für gelungenen integrativen Unterricht. Wichtig sind Einstellungen, Beziehungen, eine Mehrperspektivität und dass man versucht, einen differenzierenden und abwechslungsreichen Unterricht zu gestalten, der individualisiert ist und möglichst viele Kinder abholt und fördert.
Handlungsempfehlungen SoPariS
- Unterstützen Sie sportliche Freizeitaktivitäten von allen Kindern und insbesondere jene von Kindern mit besonderem Bildungsbedarf, denn es besteht bei allen Kindern eine positive Wirkung auf deren Selbstkonzept.
- Ermöglichen Sie den Schülerinnen und Schülern viele positive Erfahrungen in ihrem Sportunterricht.
- Erfolgserlebnisse sind gerade auch für schwächere Kinder wichtig.
- Entwickeln Sie mit Ihrer Klasse verschiedene Wege, um ein spannendes Spiel für alle zu gestalten. (Anpassungen bezüglich Regeln, Spielfeld, Gruppenzusammen setzungen, Gruppengrössen usw.).
- Fördern Sie Kooperation im Sportunterricht, denn damit erhöhen Sie die Kontakte zwischen den Kindern. Ein stark leistungsorientierter Sportunterricht kann leicht zu Ausgrenzung führen.
- Gestalten Sie den Sportunterricht so, dass die Kinder auf ihren unterschiedlichen Niveaus herausgefordert werden. Heterogene Sportklassen erfordern einen vielfältigen Sportunterricht.
- Geben Sie allen Schülerinnen und Schülern positives Feedback. Damit erhöhen Sie die soziale Akzeptanz, insbesondere von Kindern in sozialen Randpositionen.
- Arbeiten Sie in multiprofessionellen Teams, besprechen Sie Ihre Herausforderungen und zögern Sie nicht, sich durch Fachpersonen beraten zu lassen.
Vitus Furrer (Fachdidaktikzentrum Sport, PHBern)
Hauptfokus
Soziale Partizipation im integrativen Sportunterricht von Primarschulklassen: zur Bedeutung von Lehrpersonen- und Klassenmerkmale.
Wichtigste Erkenntnisse
Eine individuelle Bezugsnormorientierung der Lehrperson und das Lehren von kooperativen Normen im Sportunterricht hängen positiv mit der sozialen Akzeptanz der Schülerinnen und Schüler zusammen.
Die sozialen Interaktionen hängen nicht mit der Einstellung der Lehrkraft zusammen.
Fabian Mumenthaler (Institut für Heilpädagogik, PHBern)
Hauptfokus
Analyse der sozialen Netzwerke in integrativen Settings (Schule und Verein)
Wichtigste Erkenntnisse
Kinder mit einer kognitiven Beeinträchtigung haben eine tiefere soziale Partizipation als Kinder ohne kognitive Beeinträchtigung. Dies gilt für Freundschaften und soziale Interaktionen im generellen Schulkontext und im Sportunterricht. Im Sportverein haben Kinder mit einer kognitiven Beeinträchtigung durchschnittlich gleich viele Freundschaften wie Kinder ohne kognitive Beeinträchtigung.
Thierry Schluchter (Institut für Heilpädagogik, PHBern)
Hauptfokus
Sportliche Aktivität und Selbstkonzept von Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung.
Wichtigste Erkenntnisse
Schülerinnen und Schüler mit einer kognitiven Beeinträchtigung sind in ihrer Freizeit regelmässig sportlich aktiv. Auch wenn diese Aktivitäten im Vergleich zu den Kindern ohne kognitive Beeinträchtigung weniger häufig stattfinden, so wird doch eine breite Palette an Sportangeboten genutzt.
Sportliche Aktivität ist auch für Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung wichtig und hat einen Einfluss auf das Selbstkonzept.
Alexander Steiger (Institut für Sportwissenschaft ISPW)
Hauptfokus
Soziale Partizipation im ausserschulischen Sport (Sportvereine, freiwilliger Schulsport, private Anbieter). Zur Bedeutung individueller -und Gruppenmerkmale.
Wichtigste Erkenntnisse
Sportlich leistungsfähigere Kinder erfahren mehr soziale Akzeptanz und haben mehr Freundschaften. Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung haben gleich viele Freunde wie ihre Peers, erfahren jedoch eine geringere soziale Akzeptanz.
Soziale Ziele der Gruppe gehen mit erhöhter sozialer Akzeptanz aller Kinder einher, besonders positiv ist dieser Zusammenhang bei Kindern mit kognitiver Beeinträchtigung.
Hauptprojekt SoPariS
Hauptfokus
1) Wie gestalten sich die sozialen Netzwerke von Kindern mit kognitiver Beeinträchtigung in den verschiedenen integrativen Settings?
2) Welche Faktoren beeinflussen die soziale Partizipation der Kinder?
3) Welche Zusammenhänge gibt es zwischen den verschiedenen integrativen Settings?
Wichtigste Ergebnisse
Kinder mit einer kognitiven Beeinträchtigung haben in der Schule eine tiefere soziale Partizipation als Kinder ohne kognitive Beeinträchtigung. Jedoch sind die meisten nicht in ihren Klassen isoliert, sondern finden auch gegenseitige Freundschaften und soziale Interaktionen.
Nebst dem Sonderschulstatus beeinflussen verschiedene Faktoren die soziale Partizipation: Kinder mit schlechter schulischer Leistung und Kinder, die zu Hause nicht hauptsächlich Deutsch sprechen finden in der Schule weniger Freunde.
Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung, die in einen Sportverein gehen, finden im Verein gleich gut sozialen Anschluss wie die anderen Kinder. In der Schule sind diese Kinder jedoch stärker von sozialer Exklusion bedroht als jene Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung, die nicht in einen Sportverein gehen.
Die meisten Freunde, welche die Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung in ihrer Freizeit treffen, sind auch ihre Schulgspänli.