Shabby chic statt aalglatt

Wir stellen uns gerne schöner, besser, stärker dar, als wir sind. Digital gibt es dafür hilfreiche Tools. Wir "tunen uns auf", um besser bestehen zu können. Nicht nur im Netz, sondern überhaupt in unserem Sein. Warum eigentlich? Warum zeigen wir uns nicht, wie wir sind? Bringt uns "Lack" wirklich Vorteile? Was hat er mit der Schule, mit Kooperation im Kollegium, mit dem Umgang mit Mitmenschen zu tun? Auf solche Fragen sucht die Schulpraxis in ihrer Ausgabe 2/21 Antworten.
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Schulpraxis_Lack
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Sabine Künzli und Gerhard Stähli beraten Lehrpersonen an der PHBern. Mit Lack haben sie oft zu tun.
Im Interview mit Franziska Schwab von Bildung Bern plädieren sie für mehr Lackbewusstsein.

Es gibt Menschen, die keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben. Welcher Lack ist daran schuld?

Sabine Künzli (SK): Ich glaube, ich habe noch nie jemanden beraten, der keine Gefühle hat. Es kann jedoch eine Weile dauern, bis sie sich zeigen.

Gerhard Stähli (GS): Es ist sehr plakativ, aber ich denke, Männer haben mehr Mühe als Frauen, Gefühle zu spüren. Wenn ich an meine Männerbanden oder Männerarbeiten von früher denke, ist mir immer wieder aufgefallen, wie arm eigentlich diese Gefühlswelt sein kann. Und ich denke, der Lack kommt vielleicht davon, dass Eltern es nicht aushalten, wenn ein Kind "blöd tut" oder starke Emotionen zeigt. In der Erziehung gibt es ja ganz viele Muster: "Beiss die Zähne zusammen", "Man weint nicht". "Es schneielet, es beielet, d Buebe loufe gschwind" und die Mädchen ziehen Handschuhe an, denn sie spüren es. Wenn ich als Achtklässler weine, bin ich eine Memme und das will ich nicht. Ich habe das Gefühl, für uns Männer ist es schwieriger, zu unseren Gefühlen zu finden. Ich weiss, es ist gefährlich, so  klischeehaft über Männer und Frauen zu sprechen. Aber die Literatur und Gespräche mit anderen Männern zeigen, dass es schon etwas Wahres hat.

Wieso ist es im Kollegium oft schwierig, offen, lacklos zu sein?

GS: Man kann gut ausweichen. Es ist zu wenig wichtig. Freundschaften hast du rundum. Emotionen zeigen braucht Zeit. Im Kollegium fehlt sie. Oder Direktheit hat  eine fatale Auswirkung: Ich werfe dir etwas an den Kopf, die Reaktion ist schwierig, ich bereue, es gesagt zu haben. Diese Negativerfahrung blockiert späteres Ansprechen.

Es gibt Lehrpersonen, die kein Interesse an Offenheit haben. Woher kommt dieses Desinteresse?

SK: Das ist verhärteter Lack. In der Sozialisation hat man das Desinteresse mitgekriegt. Es wird aufrechterhalten, weil es funktioniert. Man denkt: Es gibt nur viel zu tun. Ich rechne lieber einen Notenschnitt aus.

GS: Es braucht Mutige, die Offenheit vorleben. Dies wirkt ansteckend. Schnell gesellen sich Gleichdenkende dazu und werden zu "Gleichsprechenden", der  Austausch kommt in Bewegung. So kann sich etwas verändern, im Menschen drin und auch im Kollegium.

SK: Unsere stärksten Kritiker:innen sind ja wir selber.

GS: Das erlebe ich oft. Eine Lehrperson erzählte von einer Grenzüberschreitung. Ich hörte zu, verurteilte nicht – es ist menschlich, auch wenn es nicht passieren sollte. Die Lehrperson meinte anschliessend, es habe ihr gutgetan, nicht verurteilt zu werden, denn sie mache das schon selbst genug.

Welcher Lack ärgert Sie am meisten?

GS: Das doppelbödige Reden. Es ist alles gut …dabei ist es anders. Das mag ich nicht. Ich brauche aber einen gewissen Lack. Ich will mich nicht bei allen gleich authentisch zeigen. Ein Wechsel, Lack, nicht Lack, ist menschlich. Wahlfreiheit ist auch hier wichtig. Schulz von Thun spricht von situationsgerechter Authentizität.

SK: Ich übe mich nach wie vor darin, mich vom Lack zu befreien. Ich wurde mit viel Lackbewusstsein sozialisiert. Das ärgert mich, da ich merke, wie prägend das war. Dass wir in diesem Land aber das Lackbewusstsein haben und am Lack kratzen dürfen, ist ein grosses Privileg. Shabby chic ist in Bezug auf Lack "in". Es ist besser, wenn wir ein wenig Lack haben und am Lack kratzen dürfen, als wenn wir uns aalglatt zeigen.