Didaktischer Kommentar

Mädchen im Rollstuhl

Kontakte – die natürlichste Sache der Welt

Wer Kleinkinder beim Spielen beobachtet, staunt über die Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit im Umgang mit Andersartigkeit. Die unkomplizierte und direkte Art, mit der Kinder aufeinander zugehen, entspricht den entwicklungspsychologischen Voraussetzungen. Entscheidend ist nämlich nicht die Herkunft, die Begabung eines Kindes, sondern die Aktion, das Spiel. Die Beziehung definiert sich über dieses und hält solange an, wie die Kinder zusammen etwas tun, wie sie gemeinsam spielen. In diesem Sinne bleibt jedes Kind in seiner Welt verhaftet.

Bei älteren Kindern wird sich dies ändern. Die Kinder kommen in Kontakt mit andern Kindern, die sie auch bewusst als andere Individuen mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen wahrnehmen. Kontakte zwischen verschiedenen Kindern gehören zum Schulalltag in jeder Klasse. Die Kinder lernen andere Kinder und sich kennen und bauen Beziehungen auf, aus welchen nicht selten Freundschaften für das ganze Leben werden. Schulklassen bieten ein vielfältiges Potential für soziale Prozesse.

Man denke z.B. an eine multikulturell zusammengesetzte Schulklasse oder an eine Klasse, in der Kinder mit Behinderungen integriert werden. Gerade in solchen integrativen Regelklassen begegnen sich sehr unterschiedliche Kinder.

Wie Kontakte wirken können

An Kontakte zwischen verschiedenartigen Kindern knüpft sich die Erwartung, dass gegenseitige Ängste, Bedenken oder Vorurteile abgebaut werden oder gar nicht erst entstehen können. Die alltägliche Hoffnung, dass Kontakt Menschen einander näher bringt, wird in der Kontakthypothese ausformuliert. Diese geht davon aus, dass sich mit dem Kontakt zwischen Menschen auch deren Einstellung zueinander verändert. Die Hypothese, dass mit vermehrten Kontaktangeboten positivere Einstellungen einhergehen, hat eine lange Tradition in der Wissenschaft. Ihren Ursprung nimmt diese im Nachkriegsamerika (vgl. Allport 1954). Die Kontakthypothese gründet in verschiedenen Vorannahmen, welche plausibel machen, warum Kontakte wichtig sind (vgl. Cloerkes 1997).

Darum sind Kontakte wichtig

Vorurteile sind Voraus-Urteile: Die kürzeste aller Definitionen des Vorurteils lautet: „Von andern ohne ausreichende Begründung schlecht denken“ (Allport 1971, 20). Es handelt sich um ein Urteil, das dem begründeten Urteil vorausgeht. Mittels Kontakt kann ein unbegründetes Urteil korrigiert werden, da eine Auseinandersetzung mit dem Menschen direkt erfolgt.

Vorurteile werden erlernt: Der Mensch muss die Vielfalt der Eindrücke einordnen, sonst ist ein Überleben nicht möglich. Welche Generalisierungen ein Mensch vornimmt, ist jedoch von seinen Erfahrungen abhängig. Kinder lernen Vorurteile und können diese aber durch Erfahrungen wieder umlernen korrigieren.

Der Weg des geringsten Widerstandes: Vorurteile, das weiss man aus der Forschung, sind äusserst hartnäckig. Solange ein Vorurteil zur Bewältigung des Lebens genügt, wird an diesem festgehalten. Erst wenn das Umfeld ein Umdenken verlangt, wird ein Vorurteil überdacht. Dies geschieht dann, wenn durch den direkten Kontakt Vorurteile widerlegt werden.

Fremdes wirkt bedrohlich: Es gibt Theorien, die besagen, dass der Mensch immer versucht, ein geistiges Gleichgewicht herzustellen. Ungleichgewichtssituationen werden als bedrohlich empfunden, da sie nicht strukturiert werden können (Heider 1977). Direkte Kontakte ermöglichen, dass Fremdes vertraut wird.

Kontakte fördern Freundschaften: Es ist eine Binsenwahrheit, dass man mit Freunden möglichst oft Kontakte pflegt. Untersuchungen zeigen, dass dieser Zusammenhang auch umgekehrt spielt. Kontakte können Freundschaften ermöglichen. Hierfür sind jedoch längerfristige und wiederholte Kontakt ausschlaggebend.

Erkenntnisse aus der Forschung

In der Tradition der Kontakthypothese wurden in den vergangenen Jahrzehnen Hunderte von Untersuchungen durchgeführt. Dabei wurde auf die Wirkungen von Kontakten zwischen ganz unterschiedlichen Gruppen fokussiert. So gibt es z.B. eine lange Tradition, welche Kontaktwirkungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher ethnischen und kulturellen Gruppen untersucht. Im Zusammenhang mit dem vorliegenden IdeenSet interessieren uns vor allem die Auswirkungen von Kontakten zwischen Jugendlichen mit und ohne Behinderung.

Aus der Forschung (vgl. Eckhart 2005) wissen wir,

  • ...dass in der deutlichen Mehrzahl der Untersuchungen sich Kontakt positiv auf die Entwicklung von Einstellungen auswirkt.
  • ...dass je nach Art der Behinderung die Wirkung des Kontaktes eine sehr unterschiedliche sein kann. Am ungünstigsten ist die Kontaktwirkung bei Verhaltensauffälligkeiten, günstiger dagegen wenn Behinderungen oder das Anderssein durch äussere Faktoren erklärt werden kann (z.B. Kinder mit Trisomie 21, mit Körperbehinderungen u.a.m.)
  • ...dass die Kontakthäufigkeit alleine nicht genügt, um Vorurteile abzubauen.
  • ...dass alleine mit Kontakten auch das Gegenteil erreicht werden kann.
  • ...dass nicht nur der quantitative Aspekt des Kontaktes, sondern vor allem der qualitative Aspekt berücksichtigt werden muss.

Bedingungen eines erfolgreichen Kontakts

Weil Kontakte nicht automatisch positiv wirken, wurde in vielen Untersuchungen nach positiven Kontaktbedingungen gesucht. Wie muss ein Kontakt eingebettet sein, wenn positive Wirkungen auf den Abbau von Vorurteilen erzielt werden sollen. Herauskristallisiert haben sich drei wichtige Bedingungen:

  1. Jugendliche sollen sich in der Kontaktsituation als gleichwertig erleben. Es sollen keine äusserlichen Statusunterschiede entstehen. (Statusgleichheit)
  2. Jugendliche sollen gemeinsam an wichtigen Aufgaben arbeiten um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. (Kooperation)
  3. Jugendliche sollen sich in einer Kontaktsituation erleben, die von der Öffentlichkeit und der Lehrperson sowie Schulleitung unterstützt und mitverantwortet wird. (Öffentliche Unterstützung).

Neben diesen drei Kernbedingungen haben sich weitere Aspekte gezeigt, welche die Wirkung des Kontakts positiv beeinflussen:

  • Intensität des Kontaktes: Nicht nur die Quantität sondern vor allem die Qualität des Kontaktes ist entscheidend.
  • Emotionale Einbettung des Kontakts: Kontakte müssen in eine stimmige emotionale Atmosphäre eingebettet sein.
  • Freiwilligkeit des Kontaktes: Erzwungene Kontakte können sich negativ auswirken.
  • Erfreuliche Kontaktsituationen: Kontaktsituationen sind erfolgversprechend, wenn sie von den Beteiligten als angenehm und lohnend empfunden werden.

Didaktische Anregungen

Das IdeenSet „Vielfalt begegnen“ will Begegnungen mit Menschen mit und ohne Behinderung initiieren. Mit dem Ziel, Hemmschwellen gegenüber der Kontaktaufnahme mit behinderten Menschen zu reduzieren und den Dialog zu fördern, wird das Thema Behinderung aus vielfältigen Perspektiven zugänglich gemacht. Die hier vorgeschlagenen analogen/digitalen Medien, Workshops und Institutionen sind als Ideen für den Unterricht im 7. bis 9. Schuljahr gedacht. Mit den Unterrichtsmaterialien sollen die Jugendlichen Gemeinsamkeiten entdecken und Verschiedenheiten erkennen. Bei der Auswahl der Materialien, Workshops und Institutionen wurde darauf geachtet, dass unterschiedliche Interessenfelder abgedeckt werden und dass es sich um qualitativ gute und attraktive Angebote handelt.

Die vorgeschlagenen Angebote sind fächerübergreifend einsetzbar und eignen sich für verschiedene Unterrichtsformen. Für die Mehrzahl der aufgeführten Medien existieren Arbeitsmaterialien, welche online frei zugänglich sind. Mittels Verlinkungen sind die Medien als auch entsprechendes Arbeitsmaterial rasch auffindbar und können ohne grossen Aufwand in den Unterricht integriert werden. Die nachfolgende Tabelle dient als Übersicht über das vorhandene Unterrichtsmaterial und kann im Falle von spezifischem Interesse an Behinderungsformen als Orientierung dienen.

Übersicht über Unterrichtsmaterialien

Unterrichtsmaterial Behinderungsform
Lehrmittel
Prinzip Vielfalt divers
Jeder ist anders - alle sind gleich: Gemeinsam Vielfalt gestalten divers
Was heisst schon "behindert"? - Sieben Lernstationen zum Sensibilisieren und Reflektieren divers
Jugendliteratur
Simpel Kognitive Beeinträchtigung
Rico, Oskar und die Tieferschatten Lernschwäche
Wunder - Sieh mich nicht an! Gesichtsdeformation
Schattenspringer Asperger-Syndrom
Halbe Helden Trisomie 21
unerhört - Comis zum Thema Hörbehinderung Hörbehinderung
Filme
Vielen Dank für nichts Querschnittlähmung
Ziemlich beste Freunde Querschnittlähmung
Mit ganzer Kraft - Hürden gibt es nur im Kopf Infantile Zerebralparese
In meinem Kopf ein Universum Infantile Zerebralparese
Sophie unterwegs - Leben mit dem Down-Syndrom Trisomie 21
Kurzfilme
5min Geistige Behinderung
look&roll divers
Das Vorstellungsgespräch Trisomie 21
Dokumentarfilme
(K)ein besonderes Bedürfnis Autismus
Goethe, Faust und Julia - Schattenspielerei Trisomie 21
Gold - du kannst mehr als du denkst divers