Neue Autorität: Präsenz und Beziehungsgestaltung im Zentrum

"Neue Autorität" geistert seit längerem durch Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerzimmer. Der systemische Ansatz verheisst handlungsfähige Lehrpersonen sowie verantwortungsbewusste Schülerinnen und Schüler. Doch was genau steckt dahinter? Zwei Profis geben Antworten.
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Ursula Brunner und Manfred Kuonen

Ursula Brunner ist Beraterin und Dozentin für Schul- und Organisationsentwicklung an der PHBern. Manfred Kuonen leitet den Bereich Kader- und Systementwicklung am Institut für Weiterbildung und Medienbildung der PHBern. (Bild: Jill Zesiger)

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Was bedeutet Autorität für Sie, Frau Brunner?

Für mich gibt es eine rückwärtsgewandte, repressive Autorität, die von der Haltung ausgeht, dass beispielsweise Kinder den Erwachsenen zu gehorchen haben, weil sie eben Kinder sind. Dann gibt es die Neue Autorität, welche Präsenz und Beziehungsgestaltung ins Zentrum setzt. Davon handelt dieser Artikel. Und dann wird es eine nächste Autorität geben, über die ich noch nichts aussagen kann.

Ist Autorität nichts Negatives?

Das hängt davon ab, welche Autorität gemeint ist und wie die Autoritätsperson ihre Macht, ihr Können sowie ihren Einfluss einsetzt. Der positive, stärkende Begriff von Autorität ist aus meiner Sicht keine Persönlichkeitseigenschaft, sondern eine Beziehungsleistung, denn sie bedarf der Anerkennung durch andere.

Was ist neue Autorität?

Das Konzept der "Neuen Autorität" ist der Versuch, einen zeitgemässen Autoritätsbegriff zu kreieren, der auf Transparenz und Beziehung basiert. Darin wird um Haltungen und Handlungen gerungen, die für einen gelingenden Umgang mit den heutigen Herausforderungen von Erziehungsberechtigten, Lehrpersonen und Betreuenden hilfreich sind. Die Begriffe "Neue Autorität", "Gewaltfreier Widerstand in der Erziehung", "Autorität durch Präsenz", "Stärke statt Macht" gehen auf ein Eltern-Coaching-Konzept zurück, das von Haim Omer in Tel Aviv in Anlehnung an die Philosophie und Praxis des gewaltlosen Widerstands nach Mahatma Ghandi und Martin Luther King entwickelt worden ist. Vor rund 20 Jahren brachte Arist von Schlippe dieses Konzept nach Deutschland.

Das Konzept der Neuen Autorität wurde an unterschiedliche Situationen angepasst und erweitert. Es findet mittlerweile Anwendung in Kindergärten, Tagesschulen, Schulen, Kinder- und Jugendheimen, Gefängnissen, Spitälern und Gemeinden sowie in der Führung.

Auf welchen Pfeilern basiert diese Neue Autorität?

Werte und Normen einer Schule oder Tagesschule bilden die verbindende Basis. Präsenz und Beziehungsgestaltung sind die Grundpfeiler. Autorität durch Präsenz bedeutet: Da sein, standfest und aufmerksam. In Zeiten, in denen es gut geht, aber auch in Zeiten von Krise, Belastung oder Stress. Präsenz macht meinen Standpunkt deutlich. Sie wirkt zentrierend, beziehungsstiftend, vitalisierend, unterstützend, transparent, zugewandt, liebevoll.

"Autorität durch Präsenz bedeutet: Da sein, standfest und aufmerksam."

Die systemische Perspektive geht davon aus, dass ein System sich laufend anhand von Wechselwirkungen und zirkulären Zusammenhängen entwickelt. Nach dem systemischen Verständnis lohnt es sich, das Augenmerk verstärkt auf die Faktoren zu richten, die erfolgreiches Lehren und Lernen ermöglichen und erwünschtes Verhalten stärken. Daher stehen in der Neuen Autorität nicht die Kinder und Jugendlichen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die Haltungen und Handlungen der Erwachsenen.

Und worin liegt der Unterschied zu "klassischer Autorität"?

Jedes Konzept bildet eine aktuelle Situation ab und ist zugleich offen für Weiterentwicklung. Diese Weiterentwicklung bedarf der regelmässigen Reflexion und des Austausches über die Erfahrungen bei der Umsetzung im Alltag.

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Ursula Brunner

"Der Ansatz der Neuen Autorität will die Erwachsenen im System stärken." – Ursula Brunner (Bild: Jill Zesiger)

Die Welt geht weiter, da kann die Schule nicht stehenbleiben. Doch der tägliche Unterricht und die Bemühungen von Lehrpersonen und Betreuenden, sich dem gesellschaftlichen Wandel zu stellen, kosten Kraft. Schule und Tagesschule werden durch die Art und Weise geprägt, wie dort Werte und Haltungen im Alltag gelebt werden, wie das Miteinander in Interaktion und Kommunikation, die Kooperation, das Feedback und die Partizipation im Kollegium oder Team ausgestaltet sind. Der Ansatz der Neuen Autorität will die Erwachsenen im System stärken. Es geht um einen beziehungs- und verantwortungsbewussten, leistungsorientierten, resilienten und freundlichen Umgang mit allen am System Beteiligten. Es geht um die Stärkung und Nutzung der psychosozialen Ressourcen aller sowie um deren regelmässige "Wartung".

Ist das nicht einfach alter Wein in neuen Schläuchen? Wertschätzung und Respekt sind doch seit jeher Gelingensbedingungen für tragfähige Beziehungen.

Um beim Gleichnis zu bleiben: Ich kenne die Wirkung von altem Wein in neuen Schläuchen nicht. Vermutlich passiert nicht viel. Ganz anders, beim neuen Wein in alten Schläuchen. Der neue Wein bringt die alten Schläuche zum Platzen. Übertragen auf die Neue Autorität: Es ist die Entscheidung einer Gruppe oder Organisation, ob sie eine auf herkömmlichen Machterhalt, Eskalation und einseitige Durchsetzung bedachte Autorität zum Platzen bringen, oder ob sie neue Haltungen und Handlungen ausprobieren will. Natürlich sind Wertschätzung und Respekt wesentliche Voraussetzungen für das gelingende Miteinander. Im pädagogischen Alltag, wenn ich gerade unter Stress stehe, weil ein Kind zum xten Mal mit seinem Verhallten die ganze Gruppe stört, bin ich persönlich herausgefordert. Da zeigt es sich, wie ich die beiden Begriffe Wertschätzung und Respekt im Alltag anwende. Bin ich Einzelkämpferin? Sanktioniere ich das Kind und mache mich dadurch abhängig von seinem Verhalten? Über welche deeskalierende Mittel verfüge ich? Kann ich in kritischen Situationen auf eine Kollegin oder einen Kollegen zählen? Ziehen die Eltern am gleichen Strang?

Muss ich als Lehrperson alles hinnehmen, was Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer anstellen?

Störendes Verhalten hat immer einen Grund, auch wenn es nur Langeweile, Überforderung oder Gewohnheit ist. Störendes Verhalten ist die Reaktion auf eine bestimmte Situation. Es richtet sich an mich als Repräsentantin des Systems. Für die Einhaltung der Regeln, für die "roten Linien" bin ich somit nicht allein verantwortlich. Ich berufe mich in meinem Handeln auf das Vereinbarte und werde darin von Kolleginnen und Kollegen unterstützt. Gemeinsam sind wir dafür besorgt, dass die "roten Linien" (Regeln) eingehalten werden. Damit das gelingt, braucht es wenige und vor allem sinnvolle Regeln.

"Strafen belasten die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern. Ihr Nutzen ist fraglich, da die Wirkung meist kurzfristig ist."

Sind Regeln ohne Strafen nicht nutzlos?

Lob und Belohnungen sind als Erziehungsmassnahmen umstritten – doch Strafen und Bestrafungen noch viel mehr. Strafen belasten die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern. Ihr Nutzen ist fraglich, da die Wirkung meist kurzfristig ist. Die Neue Autorität ersetzt Strafen mit Wiedergutmachung. Diese baut auf die Einsicht des Kindes, auf eine nachhaltige Veränderung und nutzt den korrigierenden Einfluss der Gruppe.

Wo eignet sich das Konzept?

Es kann sein, dass die Situation an einer Klasse derart aus dem Ruder läuft, so dass das Klassenteam beschliesst, nach dem Konzept der Neuen Autorität vorzugehen. Oder das Konzept wird von einem Kollegium als Schulentwicklungsprojekt lanciert. Oder an einer Tagesschule gibt es unterschiedliche pädagogische Grundhaltungen und das Team möchte diese Haltungen in Übereinstimmung bringen.

Geben Sie uns bitte ein Beispiel.

Nach einem Leitungswechsel herrschten Unruhe und teilweise sich widersprechende Vorgehensweisen im Betreuungsteam einer Tagesschule. Dazu kam ein Kind, das mit seinem gewalttätigen Verhalten alle herausforderte. Nach dem Einführungstag in die Neue Autorität beschloss das Team, dranzubleiben. Der Prozess wurde mit Weiterbildungen, Supervision und mit Fallbesprechungen über zwei Jahre begleitet. Die Lehrpersonen an diesem Schulstandort wurden neugierig und wollten mehr über die Neue Autorität wissen. Das Kollegium führte ebenfalls einen Einführungstag zu Neuer Autorität durch.

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Manfred Kuonen und Ursula Brunner

"Kollegien oder Teams, in denen die Kultur des Einzelkämpfertums vorherrscht, haben in der Regel kein Interesse an der Neuen Autorität." – Ursula Brunner (Bild: Jill Zesiger)

In welchen Beratungssituationen empfehlen Sie das Konzept?

Zurzeit melden sich zahlreiche Schul- oder Tagesschulleitungen bei uns, die einen Einführungstag für ihre Organisation buchen, weil sie etwas über die Neue Autorität gehört oder gelesen haben. Hier beraten wir sie zu den möglichen Vorgehensweisen. Wenn es darum geht, dass es Kinder gibt, die mit ihrem Verhalten "alle" herausfordern oder bei "schwierigen" Eltern, wenn eine Schule auf der Suche nach neuen Impulsen ist oder wenn ein Kollegium/Team ein gemeinsames Vorgehen bei Regelverletzungen entwickeln will, bei solchen Themen weisen wir auf das Konzept der Neuen Autorität hin.

Welche Stolpersteine begegnen Ihnen bei der Einführung der Neuen Autorität an Schulen?

Das Gewicht von Themen ist im Schulkontext manchmal von kurzer Dauer. Veränderungen in Haltungen und Handlungen brauchen jedoch Zeit und den Willen, dranzubleiben. Kollegien oder Teams, in denen die Kultur des Einzelkämpfertums vorherrscht, haben in der Regel kein Interesse an der Neuen Autorität. Zwar kann eine Leitungsperson für sich die Grundsätze der Neuen Autorität in ihrem Führungshandeln anwenden. Sie kann jedoch das Konzept ihrer Institution nicht "verordnen".

"Stärke statt (Ohn-)Macht schafft Platz für Leichtigkeit und pädagogische Zuversicht."

Kooperation und Vernetzung bei Einführung der Neuen Autorität sind mit Aufwand verbunden. Anderseits fällt der Aufwand weg für die ewig wiederkehrenden Themen der alten Autorität wie beispielweise die Belastung auf Grund ausbleibender Verbesserungen von Situationen mit Schülerinnen und Schülern oder nervenaufreibende Gespräche mit Eltern. Der Ansatz "Stärke statt (Ohn-)Macht schafft Platz für Leichtigkeit und pädagogische Zuversicht.

Wie kann das Konzept an einer ganzen Schule eingeführt werden?

Schritt für Schritt. Es gilt Bestehendes zu erfassen, es zu prüfen, mit anderen Schulentwicklungsthemen zu verbinden und zu entscheiden, was neu hinzukommt. Die Neue Autorität steht nicht in Konkurrenz zu bestehenden Gewohnheiten und zur Praxis, sondern sie ergänzt diese. Die Implementierung verläuft umso erfolgreicher, je mehr die Führungspersonen die Prinzipien der Neuen Autorität vorleben. Die Eltern werden ebenfalls einbezogen. Greift der Elternrat das Thema Stärke statt (Ohn-)Macht auf, so wird dadurch eine breite Akzeptanz bis ins Quartier hinein geschaffen.

Wie sieht eine solche Intervention konkret aus? Geben Sie uns bitte ein Beispiel aus der Praxis.

In einer Schule wurden Pokémon-Karten aus Schultaschen und Pulten gestohlen. Die Aufforderung, die Karten zuhause zu lassen, blieben wirkungslos. Die Kinder waren empört, Lehrpersonen und Betreuende genervt. Sie führten eine Aussprache mit allen Kindern der betroffenen Klassen in der Turnhalle durch. Zuvor wurden die Eltern über das Vorgehen informiert und um Unterstützung gebeten. Zehn Erwachsene marschierten vor den Schülerinnen und Schülern auf. Die Schulleitung erklärte, dass es zu Diebstählen gekommen sei. Sie machte auch keine Schuldzuweisung, sondern erklärte klipp und klar, dass Diebstahl an der Schule nicht geduldet werde. Danach sprachen die Erwachsenen mit den Kindern darüber, wie solche Diebstähle gestoppt werden könnten. Die besten Lösungsvorschläge wurden ausgewählt. Zuletzt teilte die Schulleitung mit, dass die Abmachungen in vierzehn Tagen im gleichen Rahmen überprüft werden. Dieses Beispiel enthält mehrere Grundsätze der Neuen Autorität: Es wird gemeinsam gehandelt, das Vorgehen ist vernetzt und abgesprochen, das Potenzial der Schülerinnen und Schüler wird mobilisiert und es wird Öffentlichkeit hergestellt.

Ist es nicht normal, dass ich als Lehrperson an meine Grenzen komme und halt mal laut werden muss?

Was heisst normal? Einmal pro Tag, einmal pro Woche oder halbjährlich? Ja, es gehört dazu, an die eigenen Grenzen zu kommen. Die Frage ist, wie gehe ich dann mit mir um. Werde ich zum Opfer der Situation, raste aus oder bleibe ich handlungsfähig? Ein Kennzeichen von resilienten Menschen ist, dass sie in Situationen, in denen sie Druck ausgesetzt sind, ihre Impulse steuern können. Sie sind achtsam mit und tragen Sorge zu sich. Ein solches Vorgehen ist lernbar.

"Jemand, der auf negative Art und Weise Regeln der Gemeinschaft verletzt, stellt sich damit nicht nur gegen eine einzelne Person, sondern auch an den Rand der Gemeinschaft."

Welchen Stellenwert hat Wiedergutmachung?

Die Wiedergutmachung geht davon aus, dass pädagogisches Handeln entwicklungsfördernd sein soll. Jemand, der auf negative Art und Weise Regeln der Gemeinschaft verletzt, stellt sich damit nicht nur gegen eine einzelne Person, sondern auch an den Rand der Gemeinschaft.

Die Wiedergutmachung bietet dem Betroffenen die Möglichkeit der Reintegration in das System. Sie stellt die Ehre der von der Regelverletzung Betroffenen wieder her, verbessert die Klassen- und Gruppenatmosphäre und stärkt letztlich die Autorität der Erziehungsverantwortlichen. Während in der traditionellen Autorität davon ausgegangen wurde, dass ein "Täter" intensiv Reue zeigen, sich danach "ehrlich" entschuldigen, den Schaden "reparieren" und sich einer Strafe unterziehen muss, bedeutet eine Wiedergutmachung etwas anderes. Die Erziehungsverantwortliche richtet sich als Repräsentantin eines Unterstützungsnetzwerkes an das Kind bzw. den Jugendlichen und bietet ihm Gesten der Beziehung, des Ausgleichs und der Versöhnung an.

Ist Neue Autorität also ein Allheilmittel?

Das Konzept bietet nicht die eine und richtige Lösung für alle Probleme. Es bildet jedoch eine gute Grundlage, von der aus das Kollegium oder das Team zu einem gemeinschaftlichen Handeln finden kann. Diese Form der Autorität durch Präsenz stärkt zugleich das Individuum, das Kollegium, das Team und die Organisation. Sie ist lustvoll und kräftigt die pädagogische Zuversicht.

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Manfred Kuonen

"Autorität muss nicht zwingend etwas Negatives sein. Wichtig ist, dass Führungspersonen klar, authentisch und integer sind." – Manfred Kuonen (Bild: Jill Zesiger)

Herr Kuonen: Was macht eine starke Führungsperson aus?

Wenn ich versuche dies auf den Punkt zu bringen, verwende ich gerne den Begriff “Leadership”: Eine Leaderin oder ein Leader ist eine Person, die es schafft, ein verheissungsvolles Zukunftsbild der Schule zu vermitteln und gemeinsam mit dem Kollegium den Weg zu diesem Zukunftsbild gestaltet, damit eine hohe Identifikation möglich ist.  

Sollten Führungspersonen autoritär sein?

Autorität muss nicht zwingend etwas Negatives sein. Wichtig ist, dass Führungspersonen klar, authentisch und integer sind. Klar ausdrücken, was die Erwartungen sind und vorleben, was erwartet wird. Ehrliches Handeln, vorhersehbare Reaktionen und kontrollierte Emotionen sind ebenso wichtig wie Fairness und eine Prise Humor.

"Das Beziehungsgeflecht zwischen allen Akteuren macht den Schulalltag zuweilen belastend und anstrengend."

Warum ist das Konzept der Neuen Autorität für die PHBern wichtig?

Wir wollen nicht irgendein Konzept über alle Schulen "stülpen". Wir wollen die Schulen in ihrer Autonomie und in ihrem Handeln stärken. Vieles machen die Schulen richtig. Doch das Beziehungsgeflecht zwischen allen Akteuren macht den Schulalltag zuweilen belastend und anstrengend. Mit dem Konzept der Neuen Autorität – oder wie wir es lieber nennen "Stärke statt (Ohn)macht" – bietet sich die Möglichkeit, je nach Bedarf gezielte Interventionen zu planen. Das Konzept spricht einzelne Lehrpersonen gleichermassen wie die Schule als Ganzes an, was die Identifikation mit der Neuen Autorität erhöht und gleichzeitig Handlungsspielraum offenlässt. So können wir massgeschneidert auf die einzelnen Bedürfnisse Dienstleistungen anbieten, die sie im Alltag unterstützen.

Wo wird das Konzept eingesetzt?

Viele Erfahrungen konnten wir bereits in Tagesschulen sammeln. Vor allem die Betreuungspersonen waren dankbar, sich in ihrem Berufsalltag an gemeinsamen Werten, Normen und Haltungen orientieren zu können, was ihnen ihre Arbeit erheblich erleichterte. Aber auch in herausfordernden Unterrichtssituationen haben wir ab und zu mit einzelnen Elementen des Konzeptes der Neuen Autorität gearbeitet. Die Unterstützung wurde jeweils als sehr hilfreich empfunden.

Die gemachten Erfahrungen haben uns bestärkt, uns vertiefter mit dem Konzept auseinanderzusetzen und den Schulen die Möglichkeit zu bieten, breiter damit zu arbeiten. Unterricht, Elternarbeit und Führung, überall dort, wo Beziehungen eine entscheidende Rolle spielen, können Elemente aus dem Konzept der Neuen Autorität bereichernd sein. Nicht nur die Schul-, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung wird greifbar, spürbar und nachhaltig.

Welche Rolle spielt Beziehung für den Lernerfolg?

Spätestens seit der Metaanalyse von Hattie (2009) wissen alle, dass die Beziehung zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schüler die wichtigste Komponente für den Lernerfolg ist. Wissenschaftliche Studien zeigten aber auch, dass die Schulleitungen mit ihrem Führungsverhalten und Führungsstil den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler signifikant beeinflussen. Beziehung steht als sichere Basis, um Inhalte überhaupt darauf aufbauen zu können. Also lohnt es sich doch, sich mit Beziehungen und Beziehungsgestaltung auf allen Ebenen auseinanderzusetzen.

Sind Respektlosigkeit und Gewalt an Schulen und Tagesschulen nicht Ausdruck einer Schulkultur oder Gesellschaft, die eine einzelne Person unmöglich lösen kann?

Genau hier setzt ja das Konzept der Neuen Autorität an. Eine Lehrperson oder ein Mitglied der Schulleitung tritt nicht isoliert gegen alle anderen an. Sie ist immer eine Repräsentantin eines Unterstützungsnetzwerkes, die die Einhaltung der Spielregeln via Wiedergutmachung einfordert. Deswegen sind wir auch der Ansicht, dass das Konzept im Rahmen der Schulentwicklung für alle Akteure hilfreich und so auch nachhaltig sein kann.

"Wenn ernst genommen wird, dass Unterrichten Beziehungsarbeit ist, dann hat unserer Meinung nach die Reflexion über diese Beziehungsgestaltung oberste Priorität."

Was empfehlen Sie Schulen, die mit Überforderung bei Lehrpersonen zu kämpfen haben?

Ein erster Schritt ist immer die Analyse. Genau hinschauen und hinhören, wie das System Schule funktioniert. Eine Überforderung liegt selten allein in der Persönlichkeitsstruktur einer Lehrperson. Lehrpersonen agieren heute in einem spannungsgeladenen Beziehungsgeflecht der verschiedensten Anspruchsgruppen (Behörden, Eltern, Fachgruppen usw.). Es gilt herauszufinden, welche Ressourcen im System wie eingesetzt werden könnten, damit die beteiligten Akteure einen guten Job machen können. Wenn ernst genommen wird, dass Unterrichten Beziehungsarbeit ist, dann hat unserer Meinung nach die Reflexion über diese Beziehungsgestaltung oberste Priorität. Die Wissenschaft liefert einige Ansätze, wie dies getan werden könnte. Die Neue Autorität ist eine Möglichkeit. Aber auch Erkenntnisse der Gesundheitsforschung und der Führungspsychologie können gewinnbringend eingesetzt werden. Weiterbildungsangebote können hier vielleicht Türen öffnen.

Was empfehlen Sie Lehrpersonen, die ihre Klasse nicht "im Griff haben"?

In Analogie zum oben Gesagten steht auch hier eine Analyse an erster Stelle. Ich würde mit einer Selbstreflexion starten. Was gelingt mir gut? Was gelingt mir weniger? Ein nächster Schritt könnte ein Feedback einer Kollegin oder eines Kollegen sein. Auch die Schulleitung kann hier gut unterstützen. Wichtig scheint mir aber eine offene und ehrliche Haltung einzunehmen. Beispielsweise kann die Frage "was kann ich in meinem Verhalten ändern" neue Perspektiven eröffnen. Es ist doch ähnlich wie in der Führung: Eine vertrauensvolle Beziehung entsteht erst dort, wo einander mit Offenheit begegnet wird.

Setzen Sie Neue Autorität in Ihrem eigenen Führungsalltag ein?

Ja, ich habe mir zur Gewohnheit gemacht, einzelne Elemente bewusst einzusetzen. Beispielsweise kommt mir der Merksatz "schmiede das Eisen, wenn es kalt ist" (Haim Omer) ab und zu in den Sinn.

Welchen Stellenwert haben Weiterbildungen für das System Schule?

Die Schule erfüllt eine der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben. Die Pandemie hat gezeigt, dass Schule systemrelevant ist. Adäquate Rahmenbedingungen für die Schule zu schaffen, muss folglich eine hohe Priorität geniessen. Lifelong Learning ist ein wichtiges Element. Im Kanton Bern haben wir diesbezüglich ein äusserst vielfältiges Angebot, welches zur Auseinandersetzung anregen soll. Dies ist unsere oberste Priorität.

Die PHBern begleitet Schulen bei der Planung und Umsetzung des Konzepts der Neuen Autorität und bietet praxisbezogene Angebote für den Umgang mit herausfordernden Situationen an Schulen und Tagesschulen an.