Wie kompetenzorientierte Beurteilungen die Lernfreude fördern

PHBern-Dozentin Fabienne Zehntner und Primarlehrerin Anina Krebs arbeiten im Tandem. Beim Tandemprojekt steht die kompetenzorientierte Beurteilung im Mittelpunkt. Das erklärte Ziel ist es, dadurch die Lernfreude der Kinder zu fördern und Lernerfolge zu ermöglichen.
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Anina Krebs, Lehrerin einer 5./6. Klasse im Seidenbergschulhaus in Muri bei Bern, hat positive Erfahrungen mit der notenfreien Beurteilung während des Schuljahres gemacht: Einer ihrer Schüler erklärte ihr zu Beginn der 5. Klasse, dass er Französisch nicht möge und ausserdem nicht gut darin sei. Sieben Monate später kann er in einem bisher ungeliebten Fach Erfolge feiern und ist motiviert, noch besser zu werden. Anina Krebs ist anzusehen, wie sehr sie diese Entwicklung freut und sie in ihrer Beurteilungspraxis bestärkt.

Lernen im Fokus

Dieser Prozess war möglich, weil der Schüler klar umrissene Lernziele hatte und er in seinem eigenen Tempo an diesen arbeiten konnte. Ausserdem erhielt er auf seinem Lernweg formative Rückmeldungen. Weiter konnte er die summativen Tests dann machen, wenn er sich bereit dazu fühlte. Anina Krebs gab ihm auch zu den summativen Tests gezielt Rückmeldungen und hat die Resultate nicht alle miteinander zu einer Note verrechnet, sondern einzeln beurteilt. Dadurch wusste der Schüler immer, wo er bereits Fortschritte erzielt, und wo er noch Lernpotenzial hatte. Für Anina Krebs ist dieses Beispiel ein Beweis für den Vorteil der kompetenzorientierten Beurteilungspraxis: "So kann ich den Kindern zeigen, dass sie alles können, wenn sie in ihrem Rhythmus vorangehen und ihnen das Lernen als positives Erlebnis vermitteln." Denn das Lernen höre nach einem Test nicht einfach auf, weiss die Primarlehrerin.

Gerade bei der Ausgestaltung der summativen Beurteilung wird deutlich, ob die Bilanzierung für das weitere Lernen genutzt werden kann, oder ob es lediglich um den Vergleich der Leistung innerhalb der Klasse geht, ergänzt Fabienne Zehntner. "Erhalten die Schülerinnen und Schüler nach einem summativen Beurteilungsanlass differenzierte Rückmeldungen, lernen sie ausserdem, ihre Leistungen besser einzuschätzen", betont die PHBern-Dozentin. Werden die einzelnen Lernziele betrachtet, werden auch kleine Erfolge sichtbar. Das wiederum motiviert die Lernenden.

Bereichern und inspirieren

Das aktuelle Tandemprojekt läuft seit Sommer 2022 und geht wahrscheinlich in eine Verlängerung. Der grösste Nutzen eines Tandems ist laut den beiden engagierten Pädagoginnen, dass sich ihre jeweiligen Perspektiven gegenseitig bereichern und inspirieren. Anina Krebs profitiert dadurch, "dass ich mir durch das Tandem mehr Fachwissen aneigne, meine Beurteilungspraxis zusammen mit Fabienne spezifisch reflektiere und so an Sicherheit gewinnen". Fabienne Zehntner, die seit 2014 an der PHBern am Institut Primarstufe zum Thema Beurteilung lehrt, sucht die Nähe zur Praxis: "Es ist mir wichtig, stärkere Verbindungen zwischen der fachlichen Auseinandersetzung und der Erfahrungen in der Praxis zu schaffen. Was ich durch Anina lerne, fliesst direkt in meine Lehre ein." Anina Krebs ihrerseits kommt als Gastreferentin in die Seminare von Fabienne Zehntner und diskutiert mit den Studierenden ihre Beurteilungspraxis, die während des Schuljahres ohne Noten auskommt. "Das Interesse am Thema ist riesig", freut sich Anina Krebs, die jeweils sehr gestärkt und motiviert aus den Seminaren kommt.

Eltern einbeziehen

Noch sind Noten das gängigste Beurteilungsmittel in der Volksschule. Deshalb ist Kommunikation und Information mit den Eltern unabdingbar, weiss Anina Krebs, die seit drei Jahren in Muri arbeitet. Es gehe immer wieder darum, den Eltern aufzuzeigen, dass die alternative Methode für die Kinder förderlich und motivierend sei. Die Erfahrung zeigt, dass das Beurteilungssystem und sein Nutzen genau und verständlich erklärt werden müssen. Die Lernziele sind für die Schülerinnen und Schüler wie auch für die Eltern zu Beginn jeder Unterrichtseinheit transparent. Weil der Dialog mit den Eltern durch die differenzierte Beurteilung gewährleistet ist, kennt Anina Krebs auch keine schwierigen Diskussionen bei Übertrittgesprächen. 

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Anina Krebs und Fabienne Zehntner im Tandem.

Anina Krebs und Fabienne Zehntner (rechts) arbeiten bei ihrem Tandemprojekt am Thema "Kompetenzorientiert beurteilen" und organisieren Praxistreffs.

Machbare Alternativen finden

"Viele Lehrpersonen zögern vielleicht, auf Noten zu verzichten, weil sie Mehraufwand befürchten oder machbare Alternativen fehlen", weiss Anina Krebs aus eigener Erfahrung. Sie hat für sich eine passende Lösung gefunden. Sie zückt zur Veranschaulichung eine Liste mit Lernzielen. Diese dokumentiert bei jedem Kind, welches Lernziel erfüllt, teilweise oder bisher nicht erfüllt ist. "Aus meiner Sicht ist die Führung der Liste vergleichbar mit der Berechnung und Dokumentation der Noten. Der klare Vorteil der Liste liegt darin, dass ich jederzeit sehen kann, welches Kind welche Lernziele bereits erfüllt hat. So kann ich unter anderem Elterngespräche viel effizienter vorbereiten." Fabienne Zehntner bestärkt das Vorgehen ihrer Tandempartnerin: "Bedenkt man, dass die Note im Zeugnis nicht auf der Durchschnittsberechnung von Prüfungsnoten beruhen darf, sondern auf den Einschätzungen zu den Kompetenzerwartungen, verfügt Anina mit ihrer Dokumentation über hilfreiche Informationen."

Schliesslich geht es den beiden darum, dass die Schülerinnen und Schüler – so wie es ein Bildungsziel fordert – ihre Potenziale erkunden und entfalten können. Dazu brauche es eine kompetenzorientierte und lernförderliche Beurteilungskultur, die das Lernen ins Zentrum stellt. 

Praxistreffs organisiert

Genau deswegen organisieren die Pädagoginnen ab April 2024 Praxistreffs für Lehrpersonen und Schulleitende. Bei den Treffs wollen Fabienne Zehntner und Anina Krebs die Teilnehmenden motivieren, die eigene Beurteilungspraxis sorgfältig zu reflektieren und gemeinsam über lernförderliche Beurteilung zu diskutieren. Das übergeordnete Ziel ihres Engagements ist klar: Sie wollen die natürliche Lernfreude der Kinder erhalten und sie für lebenslanges Lernen motivieren.

PS: Anina Krebs liebäugelt übrigens mit dem neuen CAS Kompetenzorientiert Beurteilen. Auch sie hat nie ausgelernt.