"Frau Ibrahimi, was sagt der Islam dazu?"

Nathalie Gasser ist Forscherin und Dozentin an der PHBern. Sie zeigt in ihrer kürzlich publizierten Dissertation wie unterschiedlich junge Secondas aus der Schweiz mit der Herausforderung umgehen, als religiöse muslimische Frauen in einem tendenziell islamkritischen Umfeld bildungsbiografisch zu bestehen.
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Nathalie Gasser, Sie haben für Ihre Dissertation die Bildungswege von jungen Muslimas in der Schweiz untersucht. Welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht?

Am meisten überrascht hat mich das Ergebnis, dass Religion oder die Differenzkategorie "Muslimin" trotz des momentan sehr emotional geführten Islamdiskurses die Bildungswege der jungen Frauen nicht einfach einschränkt, sondern Religion bildungsbiografisch auch als Ressource wirken kann ‒ und dies durchaus nicht nur in spirituellem Sinne.

Religion als "Ressource"? Was muss man sich darunter vorstellen?

Es gibt verschiedene Formen, wie Religion in den Bildungsbiografien zur Ressource werden kann. Einerseits schaffen es einige Frauen, dass sie (oft mangels anderer Möglichkeiten) in einem Bereich zur Unternehmerin werden, wo sie bildungsbiografisch das Stigma "Muslimin" quasi für sich zum Charisma wenden können, indem sie z.B. ein Kleiderlabel für muslimische Frauen gründen, Fahrlehrerin für muslimische Frauen werden oder ein Spielzeuglabel für muslimische Kinder auf die Beine stellen oder eine Alternativkarriere in einer NGO oder Gemeinde, die an die Rolle einer Muslimin und Migrantin gekoppelt ist, einschlagen.

Eine andere Form ist die Rolle der Religion als persönliche Ressource im Privaten, die gerade bei oft sehr anspruchsvoll verlaufenden Bildungsbiografien tragend wirkt. Einige Frauen beschreiben zum Beispiel, wie sie sich im Gebet aus dem hektischen Alltag innerlich zurückziehen und -besinnen können, ähnlich wie dies zurzeit boomende buddhistisch inspirierte Achtsamkeitspraktiken für sich beanspruchen.

Drittens bildet die religiöse Vergemeinschaftung für manche Frauen eine Ressource. In muslimischen Frauen- und Jugendgruppen können Ausschlusserfahrungen ausgetauscht und in geschütztem Rahmen reflektiert werden. Aber nicht nur das: Wie ich teilnehmend beobachten konnte, werden hier auch ausserreligiöse Dilemmata oder Probleme in Schule und Beruf, Familie und Beziehung besprochen. Die Frauen unterstützen sich gegenseitig in berufsbiografischen Belangen – beispielsweise bei Bewerbungsschreiben, bei sprachlichen Problemen oder indem sie sich gegenseitig berufliche Netzwerke zugänglich machen.

Welches sind die grössten Hürden, die die jungen Frauen überwinden müssen?

Am schwersten haben es wohl kopftuchtragende Frauen, die eine Berufslehre machen wollen. Keine der Frauen meines Samples, die ein Kopftuch trug und eine Berufslehre machen wollte, hatte den Einstieg in die Ausbildung auf direktem Weg geschafft: Das Kopftuchtragen stellt im Berufsbildungsbereich eine wirkmächtige Bildungsbarriere dar. Ein Grund hierfür dürfte in dem Dualen Berufsbildungssystem der Schweiz liegen, wo Betriebe quasi in Eigenregie ohne staatliche Regulierung über die Vergabe von Ausbildungsverträgen entscheiden können. Auf Grund der vielen gesellschaftlich kursierenden Stereotype haben es kopftuchtragende Frauen gerade in kleineren Betrieben ohne Diversity-Konzepte schwer, sich im umkämpften Lehrstellenmarkt durchzusetzen.

Im Unterschied zu potentiell genau gleich religiösen Männern oder christlich sozialisierten religiösen Frauen kommt es bei religiösen muslimischen Frauen hier anhand des sichtbaren religiösen Symbols Kopftuch zu einer doppelten Diskriminierung: Die Kategorien "Muslimin" und Frau verschränken sich – sie wirken intersektionell, das heisst, sie verstärken gegenseitig ihre diskriminierende Wirkung. Kommen noch weitere potentielle Differenzkategorien wie soziale Klasse, Zuwanderungsgeschichte oder Hautfarbe hinzu, potenzieren sich die Schwierigkeiten, bei der Lehrstellensuche erfolgreich zu sein.

Hat der Islamdiskurs einen Einfluss auf die Bildungsbiografien der jungen Frauen? Fliesst er in die Schule, in das Klassenzimmer ein?

Aus den biografischen Interviews der Frauen konnte rekonstruiert werden, dass sich der Islamdiskurs vor allem auf zwei Arten im Klassenzimmer manifestiert. Erstens in der Zuschreibung eines Expertinnentums an die Lernenden, quasi einer "Expertin für Islam" zu sein, z. B. in der Schule mit Fragen wie "Frau Ibrahimi, was sagt der Islam dazu?" konfrontiert zu werden.

Viele Frauen beschrieben in den Interviews, wie von ihnen in der Schule erwartet wurde, dass sie zu jeglichen islamischen religiösen Pflichten und Praxen, Koraninhalten aber auch anderen dem Islam zugeschriebenen Themen wie Mädchenbeschneidung, Frauenunterdrückung und nicht zuletzt auch weltpolitischen Konflikte und terroristischen Ereignisse Auskunft geben zu können. Sie empfanden diese Rolle als eine Belastung, die sich v.a. dann zuspitzte, wenn tagespolitische Ereignisse den stereotypen Islamdiskurs in der Schweiz befeuerten.

Eine weitere Art, wie sich der Islamdiskurs im schulischen Feld manifestiert, liegt in der vorschnellen Festschreibung von Handlungen von Lernenden auf Religion. Die Interviews zeugen davon, dass Handeln und Handlungsgründe der Frauen in der Schule oft monokausal auf "den Islam" zurückgeführt wurden und andere bedeutsame Lebensumstände oder Handlungsmotivationen dabei teilweise schlicht unerkannt blieben.

Was sollten Lehrpersonen auf keinen Fall tun?

Lehrpersonen sollten es vermeiden, ihre Lernenden als "Expertinnen für Islam" zu adressieren. In den Interviews der jungen Frauen wurde sehr deutlich, dass diese vielleicht gut gemeinte Form des "Verstehen-Wollens" seitens der Lehrpersonen das Gegenteil erreicht: Meine Daten zeigen, dass diese Zuschreibung als Ausschlusserfahrung erlebt wird und der omnipräsente Rechtfertigungsdruck, dem Musliminnen und Muslime gesellschaftlich ausgesetzt sind, ins Klassenzimmer hineingetragen wird. Die Frauen beschreiben es in den Interviews als sehr unangenehm, ständig als Muslimin adressiert zu werden und unter dem Erwartungsdruck zu stehen, zu allem Auskunft geben zu können und eine Meinung haben zu müssen. Die so Adressierten werden immer wieder als "fremd", "anders" und insbesondere als "religiös" konstruiert und so aus der Gruppe quasi hinausbesondert. Manche erzählten sogar, dass sie erst aufgrund der ständigen Fragen ihrer Lehrpersonen und Peers begonnen haben, sich vertiefter mit dem Islam auseinanderzusetzen, weil sie nichts Falsches sagen wollten.

Als besonders ungerecht wird hierbei die Erfahrung empfunden, dass es bei ihren christlich sozialisierten Peers als selbstverständlich angesehen wird, dass diese keine Auskunft zu religiösen Feiertagen geben können und als logisch, dass die meisten säkularisiert sind und selten bis nie in die Kirche gehen. Muslimisch sozialisierte Schülerinnen und Schüler hingegen werden meist ganz selbstverständlich als religiös betrachtet. Keine ihrer christlich sozialisierten Mitschülerinnen, so erklärte mir eine junge Frau, habe jemals ein Referat zum Thema "Stellung der Frau im Christentum" halten müssen, allen sei klar gewesen, dass das Thema so pauschal nicht abgehandelt werden könne. Sie hingegen könne ihre Referate zum Thema "Stellung der Frau im Islam", die sie während ihrer Schulkarriere halten musste, kaum mehr zählen.

Sie sind nicht nur Forscherin, sondern auch Dozentin am Institut Vorschulstufe und Primarstufe (IVP) der PHBern. Welches Wissen und welche Kompetenzen sollen die Studierenden in Ihren Veranstaltungen erwerben?

Meine Forschungsergebnisse fliessen natürlich in die Lehre an der PHBern ein. Mein Hauptanliegen ist, dass die Studierenden einen offenen Kulturbegriff kennenlernen, das heisst, einen transkulturellen Kulturbegriff. Durch diesen gerät in den Blick, dass sich in unseren immer diverseren Gesellschaften unterschiedliche kulturelle Vorstellungen und Praxen gegenseitig durchdringen und Neues entsteht. Ich versuche den Studierenden ‒ anhand vieler praktischer Fallbeispiele ‒ die gesellschaftlichen Wirklichkeiten einer transnationalisierten, postmigrantischen Gesellschaft, welche die Schweiz heute ist, aufzuzeigen. Dadurch lernen die Studierenden Situationen, denen sie als Lehrpersonen begegnen werden, einzuschätzen, Herausforderungen zu erkennen und Handlungsoptionen zu prüfen, z.B. dass sie im Austausch mit Eltern muslimischen Glaubens nicht einfach stereotyp durch die religiöse Brille urteilen.

Welche gesellschaftlichen Entwicklungen sind nötig, um die Chancengleichheit der jungen Muslimas zu verbessern?

Gesellschaftlich lässt sich der Trend feststellen, dass Differenzen zunehmend an Religionszugehörigkeiten festgemacht werden. Ein grosses Potential liegt meines Erachtens in der gleichberechtigten gesellschaftlichen Akzeptanz unterschiedlicher Formen von religiöser und nicht religiöser Selbstrepräsentation. Das bedeutet zu erkennen, dass es die pauschale Kategorie "Muslimin" ebenso wenig gibt wie die pauschale Kategorie "Christin" und dass viele Menschen unterschiedlichster Herkunft mit der ihnen zugeschriebenen Religion gar nichts am Hut haben und säkular orientiert sind.

Die Gesellschaft sollte es als selbstverständlich anerkennen, dass eine kopftuchtragende Person professionell sein kann, dass sie Beruf und Religiosität durchaus trennen kann. Dies vermag meine Studie aufzuzeigen.

Welches Thema greifen Sie als Forscherin als nächstes auf?

Ein Thema, das mich zurzeit besonders interessiert ist, wie Bildungsbiografien von Menschen mit Migrationsgeschichte an Pädagogischen Hochschulen verlaufen, darüber wissen wir noch nicht genug. Wir wissen aber, wie wichtig es ist, dass zukünftige Lehrpersonen in der Schweiz von ihren Hintergründen her die Vielfalt der Gesellschaft stärker repräsentieren. Deshalb müssen wir uns fragen, ob junge Menschen mit Migrationsgeschichte, die den Lehrberuf ergreifen möchten, auf Barrieren stossen und wenn ja, welcher Art diese sind und wie sie gezielt abgebaut werden können.

Über die Autorin

Foto Nathalie Gasser

Nathalie Gasser, geb. 1974, lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschule Bern mit den Schwerpunkten soziale Ungleichheit und Dominanzverhältnisse im Kontext von Bildung, Bildungsbiografien und Islamdiskurs sowie rassismuskritische Bildung, Othering, und Intersektionalität. Sie studierte Sozialanthropologie an der Universität Bern und promovierte in Religionswissenschaft an der Universität Luzern.

Die Dissertation von Nathalie Gasser entstand im Rahmen des Schwerpunktprogrammes Migration, Mobilität und Globales Lernen der PHBern.

Gasser, Nathalie (2020). Islam, Gender, Intersektionalität. Bildungswege junger Frauen in der Schweiz. Bielefeld: transcript.

Das Buch ist Open Access als PDF verfügbar

Angebote der PHBern

Für Lehrpersonen der Volksschule und der Sekundarstufe II stellt das Institut für Weiterbildung und Medienbildung der PHBern Medien zu den Themen Ethik, Religionen und Gemeinschaft zusammen. Weitere Informationen unter www.phbern.ch/mbr