Starke Beziehungen – Fundament für psychische Gesundheit

Besondere Bedürfnisse können Beziehungen erschweren. Wie gelingt es in der Beziehung zu Kindern, auf besondere Bedürfnisse einzugehen, ohne sie auf Labels oder Diagnosen zu reduzieren? Diese Frage stand im Fokus der Tagung "Psychische Gesundheit an Schulen" vom 15. März 2025 an der PHBern. Nach dem Einstieg mit der hochsensitiven Musikerin Jaël wurde die Brücke geschlagen über die Wissenschaft bis zur Praxis – mit Erfolg!
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Gelingende Beziehungen sind ein zentraler Faktor für die psychische Gesundheit. Sie fördern nicht nur die emotionale Intelligenz und die sozialen Kompetenzen, sondern schaffen auch eine unterstützende Lernumgebung. Im Schulalltag besteht eine zentrale Herausforderung darin, in der Beziehung zu Kindern auf ihre besonderen Bedürfnisse einzugehen, ohne sie auf Labels oder Diagnosen zu reduzieren. 

Ausgehend vom konkreten Beispiel der Hochsensitivität teilte die Musikerin und ehemalige Lehrerin Jaël, selbst hochsensitiv, ihre persönlichen Erfahrungen in einem offenen und ehrlichen Interview mit dem Tagungsmoderator Dr. Patrick Figlioli. Ihr musikalischer Beitrag aus der Kindes- und Erwachsenenperspektive rundete das Tagungsthema ab.

Wie haben Sie gemerkt, dass Sie hochsensitiv sind?

Jaël: Ich forschte und suchte mein Leben lang nach Indizien dafür, warum ich mich oft fehl am Platz, anders oder gar falsch fühlte. Auch diverse körperliche und psychische Beschwerden bereiteten mir Kopfzerbrechen. Mit ungefähr 30 Jahren setzte ich mich während dieser Suche auch mit der etwas umstrittenen Stoffwechselstörung HPU (Hämopyrrollaktamurie) auseinander und fand dort etliche Antworten auf meine Fragen. 

In einem Buch über die HPU stand, dass viele Betroffene auch HSP seien. Das war das erste Mal, dass ich über diesen Begriff gestolpert bin. Daraufhin habe ich einen Stapel Bücher bestellt und angefangen zu lesen. Darunter waren gleich mehrere Bücher von Elaine Aaron, das Buch "Zartbesaitet" von Georg Parlow und "Die Berufung für Hochsensible" von Luca Rohleder, welches ich bis heute als sehr wertvoll empfinde. 

Ich las in wenigen Tagen alles durch und heulte mehr oder weniger ununterbrochen, weil ich das Gefühl hatte, endlich zu verstehen, warum ich bin, wie ich bin. Die Erleichterung, dass ich mir HSP nicht nur einbilde, dass es messbar und real ist und dass ca. 20 % der Bevölkerung davon betroffen sind, war riesengross. Deswegen setze ich mich seither dafür ein, jenes Aha-Erlebnis möglichst vielen HSP-Betroffenen zu ermöglichen und das Wissen über die erhöhte Neurosensitivität zu verbreiten.

Wo sehen Sie die Herausforderungen für Lehrpersonen, wenn sie von Hochsensitivität betroffen sind?

Ich war selber nur kurz als Lehrperson tätig, stelle mir aber vor, dass man als HSP-Lehrperson gleichermassen Schätzen wie auch Stolpersteinen begegnet. 

Die Gefahr einer Reizüberflutung ist im Kontext mit vielen (auch lauten) Menschen sicher grösser, als wenn man im Home-Office am Computer arbeitet und selber entscheiden kann, wann man für Pausen sorgt. Hingegen hat man mit den erhöht aktiven Spiegelneuronen feinere Antennen, um rechtzeitig soziale Unstimmigkeiten zu bemerken, diese empathisch zu begleiten und zu deeskalieren. Dank der Kreativität und den damit verbundenen innovativen Ideen können Lehrpersonen mit HSP den Unterricht so gestalten, dass sie die Kinder gut abholen können. 

Ich kann mir aber auch vorstellen, dass Tage, an denen man sich wirklich nicht gut fühlt, vor einer Schulklasse sehr schwer zu bewältigen sind. Das merke ich selber auch, wenn ich Konzerte geben muss an Tagen, an denen meine Energie sehr niedrig ist. Solche Tage sind als HSP ein doppelter Kampf. In solchen Momenten hilft das Verständnis der jeweiligen Umgebung dafür, dass sich eine betroffene Lehrperson in der Pause nicht am Smalltalk über die neuen Kaffeesorten beteiligt, sondern lieber alleine am Fenster sitzt und frische Luft atmet. So verschafft sie sich einen kurzen Moment für sich selbst, um das Nervensystem wieder zu regulieren.

Ich denke, die Bewusstwerdung solcher Mechanismen ist enorm wichtig – sie können dabei helfen, sich zu schützen. Wichtig ist ebenso, in jenen dunklen Momenten Tools wie Bewegung, frische Luft, Meditation oder Austausch mit Gleichgesinnten zur Verfügung haben, auf die zurückgegriffen werden kann.

Die Erleichterung, dass ich mir HSP nicht nur einbilde, dass es messbar und real ist und dass ca. 20 % der Bevölkerung davon betroffen sind, war riesengross!
Jaël  -  Musikerin und Betroffene von HSP

Wie lässt sich Hochsensitivität als Ressource im Schulalltag nutzen und einsetzen?

Bestenfalls hat man Sichtweisen auf Inhalte (Stichwort: "Thinking outside the box"), die nicht naheliegend sind und die ermöglichen, beispielsweise Kinder mit Lernschwierigkeiten zu unterstützen. Auch das Verständnis für neurodivergente Kinder jeglicher Art dürfte höher sein, wenn man selber davon betroffen ist. So können diese gezielt in ihrem Prozess, die Eigenwahrnehmung zu stärken, unterstützt werden.

Ich kann mir auch vorstellen, dass lärmempfindliche Personen eher auf die Idee kommen, für betroffene Kinder entsprechende Auszeiten und ruhige Zonen zu kreieren. 

Meine Hochsensitivität kommt mir nach 25 Jahren auf der Bühne nun zu Gute, weil ich meiner Intuition folge, was ich mir früher nicht zugetraut hätte. Konkret heisst das, an einem Konzert zu spüren, wenn der nächste Song nicht der richtige ist und spontan einen anderen anzustimmen. Oder aber eine Ansage etwas länger oder kürzer zu gestalten, um das Publikum wieder abzuholen, wenn ich den Kontakt zu ihnen verloren habe. Als Lehrperson gehen intuitive Handlungen im Klassenzimmer vermutlich in eine ähnliche Richtung.

Wie würden Sie im Unterricht für gelingende Beziehungen sorgen und wie müsste ein Klassenzimmer für neurosensitive Kinder eingerichtet sein?

Ich fände es grossartig, einer wöchentlichen Austauschrunde Platz zu geben. Damit meine ich einen Austausch, bei dem Gefühle thematisiert oder gemeinsam Gruppenkonflikte nachbesprochen werden. Ein solcher "Check-in", im Sinne von "wie geht es mir heute wirklich", stärkt die Selbstwahrnehmung und das Verständnis für die unterschiedlichen Bedürfnisse, die in einer Gruppe miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Das festigt die Gruppe und führt gleichzeitig dazu, dass sich jedes Kind gesehen und gehört fühlt. So halten sich alle Kinder gerne an die gemeinsam erarbeiteten Klassenregeln, da diese den verschiedenen Bedürfnissen entgegenkommen.

Was die Einrichtung im Klassenzimmer betrifft, würde ich versuchen, einen guten Mix zwischen Sequenzen zu finden, die immer gleich sind und solchen, die flexibel gestaltet und somit auf unterschiedliche Bedürfnisse angepasst werden können. Gerade das "Churer Modell" sollte im Zyklus 1 zur Norm gehören, um jedem Kind Hörschutz und Ausweichmöglichkeiten (Séparées) zugänglich zu machen.

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Wissenschaftliche Perspektiven und praktische Umsetzung

Im Anschluss stellte Prof. Dr. Luciano Gasser vom Institut für Forschung, Entwicklung und Evaluation (IFE) an der PHBern aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Bedeutung von Beziehungen in der Schule vor. Er zeigte auf, dass Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Temperament besonders stark von positiven Beziehungserfahrungen profitieren können und dadurch ihr Potenzial optimal entfalten.

Den praktischen Bezug stellten Dr. Fabienne Amstad und Stephan Wehrli, Dozierende des Instituts für Weiterbildung und Dienstleistungen der PHBern, her. Mit Leichtigkeit und Humor beleuchteten sie, wie Lehrpersonen eine Balance zwischen Ressourcen und Belastungen schaffen und ihre Aufmerksamkeit gezielt auf erwünschtes Verhalten im Klassenzimmer lenken können. Ebenfalls hervorgehoben wurde dabei der Nutzen sogenannter Beachtungsaufträge, die positives Verhalten verstärken.

Am Nachmittag boten verschiedene Workshops die Gelegenheit, die Themen der Tagung zu vertiefen und gemeinsam mit den Teilnehmenden weiterzuentwickeln. 

Die Tagung fand im Rahmen von "Schule braucht Persönlichkeit" statt und wurde in Kooperation mit Bildung Bern und Berner Gesundheit bereits zum sechsten Mal durchgeführt.

Save-the-date Tagung Psychische Gesundheit 2026

Die nächste Tagung zu Psychischer Gesundheit an Schulen findet am Samstag, 25. April 2026 statt.