Studierende erleben bewegendes Zeitzeugengespräch

Studierende der Sekundarstufe I haben sich im Masterseminar des Fachbereichs "Räume, Zeiten, Gesellschaften" (RZG) mit dem Thema fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen beschäftigt. Unter die Haut ging ihnen die Begegnung mit einem ehemaligen Verdingkind, das aus seinem Leben erzählte. Doch warum sind solche Erfahrungsberichte für angehende Lehrpersonen wichtig?
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RZG-Masterseminar IS1 PHBern

Foto: Karl Johannes Rechsteiner

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Die Studierenden des Instituts Sekundarstufe I erhielten im RZG-Masterseminar "Jüngste Geschichte" einen bewegenden Einblick in ein düsteres Kapitel der früheren Fürsorgepraxis: Fritz Boss (85) erzählte ihnen von seinen Erfahrungen als Verdingkind (siehe Wochen-Zeitung vom 05.01.2024.). Dozentin und Historikerin Regula Argast betont die wichtige Rolle von Lehrpersonen bei der Sensibilisierung für dieses Thema. Im Kurzinterview schlägt sie die Brücke zur Gegenwart.

Regula Argast, welchen Mehrwert bieten solche Besuche den angehenden Lehrpersonen?
Regula Argast: Im Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wird die abstrakte Kategorie "Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen" konkret und die kognitive Empathie gefördert. Gleichzeitig entwickeln die angehenden Lehrpersonen ein Bewusstsein dafür, dass schwächere Menschen, insbesondere schutzlose Kinder und Jugendliche, ein grosses Risiko tragen, stigmatisiert und ausgegrenzt oder sogar entrechtet zu werden.

Wie haben die Studierenden auf Fritz Boss reagiert?
Einerseits waren sie interessiert und brachten zahlreiche Fragen ein. Anderseits zeigten sie sich von den Erzählungen und dem Schicksal von Fritz Boss berührt und haben sich für sein Engagement bedankt. Einzelne Studierende waren beeindruckt davon, dass Herr Boss sich wünscht, dass sie gute Lehrpersonen werden – so wie einst sein Lehrer, der den Unterricht lebendig gestaltete, mit den Kindern in die Natur ging und eine wichtige Bezugsperson für ihn war.

Lehrpersonen spielen eine wichtige Rolle bei der Sensibilisierung für dieses Thema. Indem sie Einzelschicksale thematisieren und in den historischen Kontext einbetten, fördern sie auch die kollektive Erinnerung und tragen dazu bei, das Verständnis und die emotionale Verbundenheit der Schülerinnen und Schüler zu vertiefen.
Regula Argast  -  Dozentin und Historikerin

Welche Rolle spielen Lehrpersonen bei der Sensibilisierung für das Thema "Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen"?
Lehrpersonen spielen eine wichtige Rolle bei der Sensibilisierung für dieses Thema. Indem sie Einzelschicksale thematisieren und in den historischen Kontext einbetten, fördern sie auch die kollektive Erinnerung und tragen dazu bei, das Verständnis und die emotionale Verbundenheit der Schülerinnen und Schüler zu vertiefen. Darüber hinaus machen sie es möglich, mit den Schülerinnen und Schülern darüber zu sprechen, wie wir mit vergangenem Unrecht umgehen sollen, in was für einer Gesellschaft sie leben möchten, was ein "menschenwürdiges Gemeinwesen" (Fritz Reheis) für sie bedeutet und wie wir uns dafür einsetzen können.

Wie fliessen die Erkenntnisse aus der Begegnung in die Lerngelegenheit ein? 
Der Besuch von Fritz Boss wurde durch die vorbereitende Grundlagenliteratur und die gemeinsame Analyse des Ideensets "Ausgegrenzt und Weggesperrt" der PHBern (Autorinnen: Nadine Ritzer und Regula Argast) vorbereitet. An der Sitzung nach dem Besuch haben wir die Eindrücke und Erfahrungen besprochen. Im Leistungsnachweis des Moduls RZG IV im Januar 2024 präsentieren zudem sechs Studierende ein Oral History-Interview mit einem ehemaligen Verdingkind oder Betroffenen weiterer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

Die PHBern hat in Zusammenarbeit mit der vom Bund eingesetzten unabhängigen Expertenkommission (UEK) auch ein Lehr- und Lernangebot entwickelt, um eine Auseinandersetzung mit dem Thema der administrativen Versorgungen in der Schweiz bis 1981 zu ermöglichen.

Möchten Sie das Thema "Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung vor 1981" mit Ihrer Klasse behandeln?