Die koloniale Erinnerungskultur

Verlauf und Lehrplanbezug

Ziel

Im Fokus dieser Aufgaben steht die Kompetenz: RZG 7 des Lehrplan 21: “Geschichtskultur analysieren und nutzen“ Es soll die Frage gestellt werden, wie ein kritischer Umgang der heutigen Gesellschaft mit der Vergangenheit generell und mit der Verflechtung der Schweiz in den Kolonialismus im besonderen aussieht bzw. aussehen könnte. Bei allen Aufgaben wird die Sachkompetenz gefördert – diese wird nicht mehr speziell ausgewiesen.

Zeit

Die Aufträge ohne Vertiefung sind auf ca. 2-3 Lektionen angelegt, die Vertiefungsaufträge umfassen, wenn man sie gruppenteilig löst und einen Austausch einplant, erneut ca. 2 Lektionen.

Didaktische Phase * Aufgaben

Explorieren

erkunden, begegnen, Vorwissen und Erfahrungen aktivieren, Konzepte prüfen und hinterfragen, aktiventdeckend

Heranführen: Die Vergangenheit in der Gegenwart

Die Lernenden erhalten drei Fotos, welche einen Bezug zum Thema «Schweiz» und «Kolonialismus» haben. Damit soll zum einen das Vorwissen der Lernenden aktiviert werden, auch jenes aus den vorangegangenen Lektionen. Konzepte sollen überprüft und hinterfragt werden. Die Lernenden sollen zum andern auch dazu angeregt werden, Fragen zu formulieren und Thesen aufzustellen.

Didaktische Prinzipien und historische Kompetenzen:
→ Fragekompetenz: Lernende sollen selbst (historische) Fragen an die Abbildungen aber auch zum Umgang mit geschichtskulturellen Repräsentationen stellen.
→ Lebensweltbezug (Schokokuss, evtl. Vorwissen zu Zünften oder Ortskenntnisse Bern/Zürich aktivieren)

Erarbeiten

neue Konzepte und Handlungsweisen kennenlernen, ordnen

Die Zunft zum Mohren - eine politische Debatte
Die Lernenden werden anhand der Abbildung des Wappens der «Zunft zum Mohren» für rassistische Stereotypisierungen sensibilisiert. Die Recherche zum Begriff wird dem Anspruch des Geschichtsunterrichts gerecht, im (Fach-)Diskurs präsente Kontroversen auch als solche zu kennzeichnen. Es gibt verschiedene Meinungen zur Frage, ob der Begriff «Mohr» rassistisch sei oder nicht (s. Lösungshinweise).

Der Abdruck aus dem «Idiotikon» stellt die Debatte um den Begriff in den Schweizer Kontext, in welchem die rassistische Konnotation unverkennbar ist. Aus den vorangehenden Lektionen wissen die Lernenden um die Problematik des «othering». In diesem Fallbeispiel geht es um das Bild Schwarzer Menschen aus Afrika im 19. Jh., welches im Wappen der Zunft repräsentiert ist.
Dieses Vorwissen soll mit einer jungen Debatte über die Zunft und ihr Wappen erweitert werden, damit sich die Lernenden eine eigene Meinung über den adäquaten Umgang mit historischen Stereotypisierungen bilden können, die in der Gegenwart als rassistisch empfunden werden. In einem ersten Schritt erarbeiten die Lernenden die Hintergründe zum Wappen der Zunft und die unterschiedlichen Argumentationen zum «adäquaten» Umgang mit problematischen Stereotypisierungen.

Diskussion
In einem zweiten Schritt führen die Lernenden eine kurze Debatte zur Frage durch, ob die «Zunft zum Mohren» das Wappen ändern sollte und wie generell mit heute als rassistisch eingestuften Darstellungen aus der Vergangenheit umgegangen werden könnte. Die Lernenden sollen dabei die unterschiedlichen Argumente kennen, gewichten und sich aufgrund einer geleiteten Debatte selbst eine Meinung zum Thema bilden. Dabei sollen die Lernenden nicht einfach ihre eigene Meinung vertreten, sondern fähig sein, auch andere Argumente nachvollziehen, gewichten und allenfalls sogar vertreten zu können.

Didaktische Prinzipien und historische Kompetenzen:
→ Exemplarität
→ Perspektivität und Pluralität
→ Orientierungskompetenz
→ Methodenkompetenz
→ Exemplarität

Vertiefen

trainieren, erweitern, für sich verfügbar machen

Einen Eintrag auf einer Homepage formulieren
Nach der Debatte soll geklärt werden, wie die Zunft mit der eigenen Vergangenheit kritisch umgehen könnte, indem die Lernenden einen Eintrag für die Homepage formulieren.
Die Kontrastierung mit dem «realen» Ende der politischen Debatte (die Zunft hat inzwischen eine Plakette mit ihrer Interpretation des Wappens am Zunfthaus angebracht) kann die Lernenden zur Einsicht führen, dass der Umgang der Gesellschaft mit Geschichte immer wieder hinterfragt wird und dass sich der Blick auf die Vergangenheit dadurch ändern kann. Die Narrationen über die Vergangenheit, also die Geschichte, ändert sich, je nach Fragen, welche die jeweilige Gesellschaft an ihre Vergangenheit stellt.

Didaktische Prinzipien und historische Kompetenzen:
→ Orientierungskompetenz
→ Perspektivität und Pluralität
→ Narrativität

Anwenden

in bekannten Situationen

Die Thematik des gesellschaftlichen Umgangs mit Geschichte kann auf weitere Themen ausgeweitet werden – idealerweise werden aktuelle Debatten in den jeweiligen Kantonen aufgegriffen.
Zwei Möglichkeiten werden hier skizziert, verbunden mit einer kleinen Internetrecherche, die ausgeweitet werden könnte. Denkbar wäre, die Lernenden wählen zu lassen, zu welcher Person sie weiter arbeiten möchten oder/und ein Partnerpuzzle (A erarbeitet die Hintergründe zum Fall «Alfred Escher», B zu «Tilo Frey» bzw. «Louis Agassiz») und danach einen Austausch anzuregen.

Alfred Escher: Sklavenhalter oder Eisenbahnkönig?
Mit Alfred Escher wird eine Kontroverse aufgenommen, welche im Jubiläumsjahr 2019 wieder aktuell wurde: Inwiefern hat sich die Familie Escher an der Sklaverei bereichert? Die Lernenden lernen die aktuelle Debatte kennen und lernen die historische Person «Alfred Escher» kennen. Neben einem kurzen filmischen Input geben Darstellungen Einblick in dieses Kapitel.
Die Stadt Zürich hat von der Familie Escher Haus und Park «geerbt» und diskutiert nun, ob und falls ja, wie, an diesem Ort an die «koloniale Vergangenheit» der Eschers erinnert werden soll. Diese Diskussion aufgreifend, sollen die Lernenden einen möglichen «Erinnerungsort» im «Belvoir» ZH skizzieren. Sie sollen dazu ermuntert werden, auch an bildende Kunst zu denken: Statuen, ein «Kunstwerk», das zum Nachdenken anregt, etc.

Wie wurde aus dem Espace Louis Agassiz der Espace Tilo Frey?
2019 wurde der Espace Louis Agassiz in Neuenburg zum Espace Tilo Frey umbenannt. Dabei erfüllte die Neuenburger Regierung die Forderung unterschiedlicher Gruppierungen, der ersten Schwarzen Nationalrätin der Schweiz, Tilo Frey, einen Erinnerungsort zu schaffen. Tilo Frey war die erste Frau, die im Kanton Neuenburg in den Grossrat einzog und die erste Schwarze Nationalrätin (1971) der Schweiz. Die Lernenden sollen sich anhand dieses «exemplarischen Falls» Gedanken über die Geschichtskultur der Schweiz machen: Wem gedenkt man wann? Wie? Weshalb können Gedenkorte in Kritik geraten? Wie geht man als Gesellschaft damit um? etc.

Schon länger forderte ein Komitee, den Platz Louis Agassiz umzubenennen. Wie Escher war auch Agassiz eine umstrittene Persönlichkeit: Neben vielen Verdiensten, insbesondere in der Eiszeitforschung, vertrat er die Rassentheorien des 19. Jh. und schrieb äusserst abwertend über schwarze Menschen. Die Lernenden erfahren aus einem Darstellungstext, einem SRF-Beitrag sowie einer Internetrecherche die Gründe für die Umbenennung des Platzes. Auch die Kontroversen werden sichtbar gemacht.
Als Gedankenexperiment überlegen sich die Lernenden, nach wem sie einen Ort (z.B. das ebenfalls in Kritik geratene Agassizhorn) benennen würden. Für ihren Vorschlag sollen sie auch argumentativ einstehen können.

Didaktische Prinzipien und historische Kompetenzen:
→ Orientierungskompetenz
→ Perspektivität und Pluralität
→ Narrativität

Synthese/Exkurs

in unbekannten Situationen

Die Schlussdiskussion zielt auf einen kritischen Umgang der Gesellschaft mit Geschichte ab. Die Auseinandersetzung mit der Geschichtskultur soll sichtbar machen, dass die Meinungen darüber, wie eine Gesellschaft mit problematischer Geschichte und problematischen Geschichten umgehen sollte, divergieren. Sollen rassistische oder aus heutiger Sicht problematische geschichtskulturelle Repräsentationen (Bilder, Statuen, Strassennamen) entfernt werden? Oder soll – beispielsweise in Form einer Plakette – über die historischen Hintergründe informiert werden? Welche unterschiedlichen Stimmen gibt es? Was sagen die Diskussionen über die Gegenwart aus?

Am Ende der Einheit wird die Frage aufgegriffen, welche Lehren es heute aus der Vergangenheit zu ziehen gibt. In Bezug auf das «othering» werden die Lernenden gefragt, ob es heute noch Menschen gibt, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden (Menschen mit einer Behinderung? Flüchtende Menschen? Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung? Menschen mit einem anderen Glauben? Etc.) und ob spätere Generationen «uns» dies zum Vorwurf machen könnten. Eine Unterrichtseinheit zum Thema Menschenrechte könnte hier anschliessen.

Didaktische Prinzipien und historische Kompetenzen:
→ Orientierungskompetenz
→ Perspektivität und Pluralität

* Die didaktischen Phasen basieren auf dem Modell kompetenzfördernder Aufgabensets nach Kalcsics & Wilhelm, 2017.

Beurteilen

Es lassen sich verschieden Produkte und Prozesse formativ beurteilen, so zum Beispiel die in der Debatte zur «Zunft zum Mohren» aufgeführten und vertretenen Argumente aber auch der mögliche Eintrag auf der Homepage. Dabei sind vor allem die Kriterien «Multiperspektivität» / «Sachrichtigkeit (Sachkompetenz)» / «Argumentation» zu berücksichtigen.

Zur summativen Beurteilung eignet sich z.B eine Prüfungsfrage zur Wichtigkeit von Erinnerungsorten Diese könnte auf eine Generalisierung hinauslaufen: «Weshalb braucht eine Gesellschaft Erinnerungsorte?» «Wie erinnert sich unsere Gesellschaft an ihre Vergangenheit?»

→ Jedes Land (jede Nation) konstruiert sich seine Geschichte (Nationen als «vorgestellte Gemeinschaften» (Anderson)). An diese Geschichte erinnern auch zentrale Erinnerungsorte wie Denkmäler, Statuen, aber auch physische Orte wie «das Rütli» oder Museen. Diese helfen bei der Stiftung eines Zusammenhalts, bei der Stiftung einer Identität. Solche Orte sollten nicht nur die «heroischen» Seiten der (National-)Geschichte beleuchten, sondern auch kritische Blicke auf die Vergangenheit ermöglichen und die Diversität einer Gesellschaft sowie die Verflechtungen in globale Zusammenhänge zeigen.

Auch Veränderungen in der Geschichte durch neue Fragestellungen könnten in einer Prüfung diskutiert werden: «Weshalb hat man sich in der Schweiz lange nicht an die Verstrickungen in den Kolonialismus / in die Sklaverei erinnert?» -> Zu lange glaubte man, ein Land, das keine Kolonien besass, müsse sich auch nicht an diese koloniale Geschichte erinnern. Mit Themen wie der «Sklaverei» hätte die Schweiz nichts zu tun gehabt.

Unterrichtsmaterial

Ideenset_postkolonialeschweiz_Erinnerungskultur

Die koloniale Erinnerungskutlur

Unterrichtsmaterialien

Im Fokus dieser Aufgaben steht die Kompetenz: RZG 7 des Lehrplan 21: “Geschichtskultur analysieren und nutzen“ Es soll die Frage gestellt werden, wie ein kritischer Umgang der heutigen Gesellschaft mit der Vergangenheit generell und mit der Verflechtung der Schweiz in den Kolonialismus im besonderen aussieht bzw. aussehen könnte. Diese Fragen werde anhand von konkreten Beispielen aus dem Alltagsraum der Lernenden erörtert.

IdeenSet Postkoloniale Schweiz Rassismus im Schulbuch? Eine Schulbuchanalyse am Beispiel von Afrikabildern

Rassismus im Schulbuch? Eine Schulbuchanalyse am Beispiel von Afrikabildern

Unterrichtsmaterialien

Durch die rassismuskritische Analyse von Schulbuchpassagen lernen die Lernenden, Stereotypen und kolonialrassistischen Darstellungen zu dekonstruieren. Die Sequenz ist auf zwei Lektionen ausgelegt. Nach einem thematische Einstieg und einem Input zur Definition von Rassismus analysieren die Lernenden verschiedene Ausschnitte aus Schulbüchern, welche sie aktuell benutzen gemäss einem Analyseleitfaden und werten ihre Ergebnisse im Plenum aus.

IdeenSet Postkoloniale Schweiz Connecting the dots

Connecting the dots

Website

Die Webseite ermöglicht die Arbeit im Unterricht mit Zitaten auf einem Zeitstrahl. Verschiedene Zitate von Menschen aus diversen Epochen und Erdteilen zu Themen wie Arbeit, Gender, Kolonialismus, Migration und Flucht etc sind auf der Webseite einzusehen. Mit dem E-Learning-Tool können die Zitate nach Themen auf einer Zeitachse verordnet werden. Zu jedem Zitat stehen Kurzbiographien, Interpretationshilfen und Tipps zum Weiterlesen zur Verfügung. Diese Methode soll es ermöglichen, unterschiedliche Stimmen nebeneinander zu stellen und eine andere Perspektive auf die Geschichtsschreibung, etwa in Bezug zum Thema Kolonialismus, zu vermitteln. Die Zitate überraschen, irritieren und hinterfragen eigene Denkmuster. Hinweis: Die Website ist auch nutzbar ohne die ergänzende Publikation.