Welche Schlüsselerkenntnisse haben Sie aus Ihren Forschungsprojekten zur Wortschatzentwicklung und Lesefähigkeit auf der Unter- und Mittelstufe gewonnen?
Wir erforschen die Verbindung zwischen Wortschatz und Lesekompetenz im 1. und 2. Zyklus und haben festgestellt, dass ein umfangreicher Wortschatz bereits im ersten Schuljahr eine wichtige Rolle beim Lesenlernen spielt. Je mehr Wörter Kinder kennen, desto besser können sie lesen.
Interessanterweise schneiden Kinder mit einer anderen Erstsprache bei Vorläuferkompetenzen wie zum Beispiel der phonologischen Bewusstheit (z.B. Wörter in einzelne Laute zerlegen zu können) ähnlich gut ab wie Kinder mit der Erstsprache Deutsch. Die grossen Unterschiede im Lesen lassen sich hingegen eindeutig durch unterschiedliche Wortschatzkompetenzen im Deutschen erklären. Dabei geht es nicht nur um die Anzahl der bekannten Wörter, sondern noch mehr darum, wie gut Wörter in ihrem "mentalen Lexikon" miteinander verknüpft sind. Also, ob Kinder wissen, welche Wörter ähnlich sind oder welche Wörter das Gegenteil bedeuten.
In einem laufenden Projekt vergleichen wir Kinder mit der Erstsprache Deutsch mit Gleichaltrigen mit der Zweitsprache Deutsch. Wir möchten noch genauer herausfinden, wo die Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen liegen. Ausserdem interessiert uns, warum einige Kinder trotz gewisser Risikofaktoren (z.B. geringer sozioökonomischer Status der Eltern und Migrationsstatus) sehr gut lesen. Wir hoffen, aus den Erkenntnissen Empfehlungen ableiten zu können, um Kindern zu helfen, die diese besondere Fähigkeit nicht haben.
Welche Massnahmen empfehlen Sie Lehrpersonen, um die Leseleistung von Schülerinnen und Schüler mit einer anderen Erstsprache zu verbessern und ihre Entwicklung zu fördern?
Es ist davon auszugehen, dass der Grund der unzureichenden Lesekompetenzen von Jugendlichen bereits auf der Primarstufe zu suchen ist. Der Wortschatz spielt mit zunehmendem Alter des Kindes eine immer wichtigere Rolle. Ein Text wird schwer verständlich, wenn er viele unbekannte Wörter enthält. Daher ist es wichtig, den Anteil unbekannter Wörter zu reduzieren.
Das gelingt, wenn in der Schule von Anfang an angemessenes Gewicht auf Wortschatzförderung gelegt wird, wie dies in aktuellen Lehrmitteln auch verstärkt angeregt wird. Sobald Kinder flüssig lesen, lernen sie viele neue Wörter und der Effekt ist wechselseitig. Unbekannte Wörter können auch reduziert werden, indem Schülerinnen und Schüler beim Lesen unterstützt werden, diese zu entschlüsseln. Um einen Einblick zu erhalten, wie Kinder beim Entschlüsseln vorgehen, haben wir Drittklässlerinnen und -klässlern beim Lesen beobachtet. Daraus haben wir einige Tipps für Lehrpersonen abgeleitet, die auch für höhere Klassenstufen Relevanz haben (Link s.u.). Dazu gehört auch, dass Lehrpersonen die Schülerinnen und Schüler für unbekannte Wörter sensibilisieren, das Entschlüsseln demonstrieren und im Unterricht besprechen.
Als Dozentin der PHBern arbeiten Sie in der Lehrpersonenausbildung. Wie fliessen die Erkenntnisse aus Ihrer Forschung ein, um die Vermittlung von Lesekompetenzen zu stärken?
Das Schöne an meiner Anstellung ist, dass ich Lehre, Entwicklung und Forschung kombinieren kann. Von daher fliessen die Erkenntnisse aus der Forschung mit den vielen Beispielen von Schülerinnen und Schülern direkt in die Lehre und auch in die Entwicklung von Lehrmitteln ein.